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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers
Autoren: Tad Williams
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verfaulte Planken und Spanten übrig waren.
    Prospero. Hätte euer Gott seinen Gläubigen jemals eindrucksvoller erscheinen können? Ich hatte vorher noch niemals einen erwachsenen Mann gesehen, ja überhaupt noch kein menschliches Wesen außer meiner Mutter und meinem eigenen Spiegelbild in den Teichen der Insel. Und da stand auf einmal dein Vater, viel größer als ich, in ein schwarzes Gewand gehüllt, das sich an diesem glühend heißen Tag wie die Innenwand eines Brennofens angefühlt haben muß. Doch wie um seinen magischen, übernatürlichen Status noch zu unterstreichen, erschien mir sein Bart als ein wallendes Kinngehänge aus grauschwarzem Rauhreif, wie das Eis, das ich in den kältesten Monaten manchmal auf den Höhen der Insel an Blättern und Felsen fand. Auch seine Augen waren frostig, während sie den Strand überblickten und sich dann langsam nach oben auf den Felsen richteten, hinter dem ich so schlecht versteckt kauerte: Dunkler und doch zugleich leuchtender blau als der Himmel funkelten sie unter buschigen Brauen hervor. Im ganzen wirkte er wie aus Eisen gemacht, wie die Nägel, die wir von unserem Boot geborgen hatten, kalt und unbeugsam, scharf und schwarz. Ein Wesen aus Eisen und Eis.
    Doch halt! Ich bin vorausgeeilt und habe dich verwirrt, wie ich sehe. Ungebremst habe ich drauflos geschüttet, wo ich doch maßvoll und vorsichtig einschenken sollte. Denn jeder Teil dieser Geschichte hat einen anderen Geschmack, und wenn du wüßtest, was ich weiß, wenn du empfändest, was ich empfinde, und sei es nur zum geringen Teil, dann würdest du verstehen, daß du Becher für Becher in der gehörigen Reihenfolge gereicht bekommen mußt. Aber ach, Miranda, wie schwer fällt mir das Warten. Der Spund steckt seit zwanzig Jahren im Faß; der Wein im Innern ist verdorben, nur noch Essig und wirbelnde Gase. Doch warten muß ich und mich bemühen, die Geschichte ordentlich zu erzählen. Warten.
     
     
    Du kannst dich selbstverständlich nicht an Sycorax erinnern, meine Mutter, denn sie starb zwei Jahre, bevor ihr auf meine Insel kamt. Sie erstickte an einer Fischgräte, mit vorquellenden Augen und krebsrot im Gesicht. Meine Erinnerungen an sie sind geradezu unnatürlich klar. Im ersten und größten Teil meines jungen Lebens war ihre Stimme die einzige, die ich kannte, auch wenn sie nur in unartikulierten Lauten mit mir sprach, und sie das einzige Geschöpf, das halbwegs so war wie ich. Sie war die starke Sonne, die über meiner Landschaft stand, wie auch der unheimliche Mond, vor dessen Licht ich zitterte und mich unter meiner Decke dichtbelaubter Zweige verkroch. Bis dein Vater wie ein dunkler Leitstern am Himmel meiner Weltsicht aufzog, war sie meine einzige Leuchte.
    Ich verehrte sie, ich fürchtete sie, ich haßte sie. Ich liebte sie, bis es mich innerlich verbrannte. Und sie war das einzige Lebewesen, das mich seinerseits je geliebt hat. Sie war verrückt, diese Frau, wie eine gemästete Gans platzte sie fast vor innerer Widersprüchlichkeit. Sie konnte einen ganzen Nachmittag lang sorgfältig einen Fenchelstengel schälen und ausschaben, um mir vorzuführen, wie Gottes grüne Kinder trinken, und mir dann die Ohren knuffen, bis ich weinte, weil ich mich der Neugier schuldig gemacht hatte, weil ich ihr mit meinen Bedürfnissen lästig gefallen war, weil ich sie am Ellbogen gezupft hatte, um sie auf irgendein von mir entdecktes Wunder hinzuweisen. Sie starrte mitunter zum Himmel auf und lachte tonlos. Sie zeichnete aberwitzig verschlungene Bilder in den Sand und wischte sie augenblicklich mit dem Fuß weg, sobald sie fertig waren.
    Sie war eine Hexe, meine schielende, hakennasige Mutter. Ich kannte das Wort nicht – ich kannte gar keine Worte, bis dein Vater sie mir einpflanzte wie kleine harte Samen –, doch aus den Träumen, die sie mir eingab, wußte ich, daß sie nicht wie andere war. Für ein Kind muß die Mutter immer ein allmächtiges Wesen sein, das über geheime Kenntnisse, Heilkünste und schmerzhafte Verwünschungen gebietet, doch in dem Falle war es nicht allein ihr Sohn, der sie so sah. Sie wurde verbannt, wie du weißt. Sie wurde ein für allemal zum Schweigen gebracht und vertrieben.
    Die Stadt Algier war es, aus der man sie vertrieb. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn sie war tatsächlich eine Hexe. Sie war stolz darauf – auf die schwarzen Lektionen, die sie gelernt hatte, auf das Haschen und Krallen nach verborgenem Wissen, auf die nervös abgewendeten Augen der Nachbarn, in denen
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