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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers
Autoren: Tad Williams
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reißen wird, entzündete wie eine lange Lunte, genau wie ich diesen Gott – oder wer sonst als Usurpator auf dem Himmelsthron sitzen mag – dafür anklage, daß er dich und deinen verfluchten Vater in mein Leben gebracht und es in Wirrsal und Leid gestürzt hat.
    Die Insel… meine Insel… kam als ein gräulicher Fleck am Horizont in Sicht.
    Meine Mutter wurde schließlich an Land gespült und kroch aus dem Boot ein kleines Stück den Strand hinauf, wo sich, wie von einem fürsorglichen Geist dort hingestellt, mehrere schattenspendende Bäume fanden wie auch ein klares Bächlein, das von den Höhen geflossen kam. Diese beiden Dinge, Schatten und Wasser, retteten sie. Diese beiden Dinge erhielten mich in ihrem Bauch am Leben, obwohl ich nichts weiter war als eine Sprotte, eine Elritze, eine Kaulquappe.
    Du wirst dich sicher fragen, woher ich diese Sachen weiß, die doch dein Vater nicht wissen konnte. Er lehrte mich viel – ein bißchen Wahres, viele Lügen –, aber er war nicht der erste, der mir etwas beibrachte.
    Von meiner Mutter empfing ich Wissen der verschiedensten Art, und obwohl alles wortlos geschah, sehe ich heute noch die Bilder, die sie mir in den Kopf setzte, ihre eigenen Gedanken. Sie konnte nicht sprechen, und auch ihre Grunzlaute gebrauchte sie mir gegenüber nur selten – von ihrem Gesicht ist mir am deutlichsten ihr Mund in Erinnerung, ein Mund wie eine fast immer verschlossene Tasche –, doch irgendwie gab es Bilder. Davon werde ich später erzählen.
    Bis ich kam, ernährte sie sich in dieser neuen Welt von Früchten und allzu unbesorgten Fischen und kleinen Krebsen, und bei dieser Kost blieben wir meine ganze Kindheit über. Die Insel war nämlich mit allem, was wir brauchten, wohl versehen; alle Lebensnotwendigkeiten waren rasch und mit geringem Aufwand zu besorgen. Sobald ich alleine laufen konnte, begab ich mich auf die Suche nach den stachligen Früchten mit der grünen Schale oder den süßen Bananen oder den saftgefüllten roten Beuteln, die dein Vater »Wespenäpfel« nannte, und ich fand und pflückte sie so mühelos, wie ich einen Kieselstein aufhob. Ich labte mich daran und warf dann die Kerne weg, und nach wenigen Monden wuchsen dort neue Obststräucher und -bäume. Ich aß, wenn ich Hunger hatte, schlief, wenn ich müde war, und lebte, abgesehen von den Launen meiner Mutter, so frei und sorglos wie ein Tier.
    Ich hatte keinen Namen, genau wie sie keinen hatte, bis dein Vater ihn mir sagte – »Sycorax« habe sie geheißen, meinte er, und der Name ist mir immer fremd geblieben. Ich war nicht einmal »Junge« oder »du«, denn meine Mutter konnte ja nicht sprechen. Ich war ein Blick in ihren Augen, der »Komm her!« bedeutete, ein Wink mit der Hand oder höchstens ein Grunzen, ein Laut wie von einer Bache, die in der weichen Erde wühlt. Dieser rauhe Atemstoß war mein einziger Name, bis ihr kamt, du und dein Vater. Er reichte aus.
    Ich lebte, und ich war mir dessen bewußt. Wer sonst hätte es sein können, der die Eidechsen auf dem Felsen sah, wenn meine Mutter nicht zugegen war? Wer sonst aß die Früchte, die meine Mutter nicht aß, oder kletterte auf die Bäume, an denen meine ledrige, aber ausgelaugte Mutter nicht hochkam? Wem sonst winkte Sycorax? Es gab mich, und ich brauchte keinen Namen zum Beweis, anders als die madenartigen Massen, die dort unten in Neapel herumkrauchen und schlafen wie identische Bienen in den Ritzen eines großen Stocks. Ich war klein, aber ich war das einzige Wesen meiner Art. Wenn meine Mutter mein erster Gott war, dann war ich ihr einziger Gläubiger und damit von überragender Wichtigkeit – denn was ist ein Gott ohne Anbeter wert?
    Ich habe mittlerweile die riesigen Kirchen von Neapel gesehen. Ich hatte zwar von deinem Vater schon davon gehört und Bilder in seinen Büchern gesehen, aber dennoch konnte ich nicht recht glauben, daß es so hohe Gebäude geben sollte. Jetzt glaube ich es… aber verstehen tue ich es immer noch nicht. Wenn euer Gott überall ist, wenn er immer wacht, warum baut ihr dann besondere Häuser, um ihn anzubeten? Wenn er wirklich ein allsehender, allgegenwärtiger Gott ist, dann scheint mir eher ein Ort vonnöten zu sein, wo man sich vor ihm verstecken kann.
    Ich mußte auf meiner Insel einen solchen Ort finden, denn mein Gott – sprich, meine Mutter – war häufig ein eifersüchtiger Gott. Wie keine Blutsbande sie dazu bewegen konnten, mich zu beachten, wenn sie es nicht wollte, so war es ihr auch gleichgültig, ob
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