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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers
Autoren: Tad Williams
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sie die eigene dunkle Größe gespiegelt sah. Aber Macht, Größe, solche Dinge sind gefährliche Besitztümer. Dein Vater hat dieselbe Erfahrung machen müssen, nicht wahr, Miranda? Sie erzeugen Neid. Sie nähren Gerüchte. Die Leute, die dich fürchten und dir schöntun, warten nur auf deinen Fehltritt, und schon fallen sie über dich her wie die Wölfe über den einst so stolzen, jetzt aber alt und gebrechlich gewordenen Hirsch.
    Meine Mutter beging einen solchen Fehler, all ihrer Klugheit und natürlichen politischen Begabung zum Trotz. Die Schlinge zog sich zu. Sie wurde öffentlich angeprangert, in einem Schinderkarren durch die Stadt gefahren, dann sprach der Bürgermeister das Urteil. Die Flüsterer hinter ihrem Rücken hatten sie zu Fall gebracht, doch sie fürchteten sich immer noch – das wenigstens hatten ihre dunklen Künste ihr eingebracht. Alle hatten eine Heidenangst davor, von ihr mit dem letzten Atemzug verflucht zu werden. Und dazu hatten sie allen Grund, die Frauen an der Seite der Männer, die meine Mutter ihnen mit nächtlich gesammelten Kräutern verschafft hatte, die Bauern, dick geworden vom Fleisch der Schweine, die sie von der Zischkrankheit geheilt hatte. Der Bürgermeister selbst war nur zu seinem hohen Amt gekommen, nachdem er eines Nachts im Schutze der Dunkelheit das Haus meiner Mutter aufgesucht hatte: Am Tag darauf stürzte sein Vorgänger tot zu Boden. Elende Heuchler! Wenn es etwas gibt, das mich freut, dann daß ich meine Kindheit nicht unter solchen Kreaturen verleben mußte.
    Die Angst der Leute vor ihren Zauberworten, ihren Verwünschungen war so groß, daß sie ihr mit einem heißen Eisen die Zunge herausbrannten – doch selbst das reichte ihnen nicht aus. Weil sie befürchteten, mit der Ermordung selbst einer stumm gemachten Hexe Unheil über sich zu bringen, setzten sie sie in ein Boot, meine schwangere Mutter, schleppten sie aufs offene Meer hinaus und ließen sie dort treiben.
    Schwanger, jawohl. Hochschwanger sogar und ohne Mann, der sich zur Vaterschaft bekannt hätte. Wobei die widersprüchlichen wilden Gerüchte über die Identität des Vaters noch dazu beitrugen, den üblen Ruf meiner Mutter weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus zu verbreiten.
    Wenn Gott will, daß du am Leben bleibst, rief ihr der verräterische Hund von einem Bürgermeister vom Schiff aus nach, während sie davontrieb, dann wird er dich unbeschadet an irgendein fernes Gestade bringen.
    Woher weiß ich diese Dinge, wenn meine Mutter doch keine Zunge hatte, sie mir zu erzählen? Von deinem Vater. Er hatte von der Vertreibung meiner Mutter gehört, obwohl es für ihn nur ein beiläufiger Klatsch gewesen war, erzählt von einem schwatzhaften Fischhändler, der in Mailand den Winter verbrachte. Und auch darin belegte dein Vater mich mit einem Fluch, denn heute sind alle Erinnerungen an meine Mutter, an den einzigen Menschen, dem ich wirklich etwas bedeutete, durch das Sieb Prosperos und seiner vermaledeiten Sprache gegangen, genau wie mein Herz sich jetzt nicht anders ergießen kann als in den Worten, die ich zu dir spreche. Er nahm mir die Vergangenheit, und er nahm mir die Zukunft. Er stieß mich in einen dunklen Bau, und dann verstopfte er ihn an beiden Enden. Möge seine Seele in alle Ewigkeit leiden und brennen!
    Doch er wußte nicht alles. So manches besaß ich schon, bevor ich seine Worte bekam. Ein Teil der Geschichte meiner Mutter ist mir geblieben, und erst jetzt verseuche ich sie mit der Fäule der Sprache. Sie wurde auf dem Meer ausgesetzt, obwohl sie mich in sich trug, den ungeborenen Kaliban. Unser Boot trieb endlos dahin. Eine gutherzige Nachbarsfrau hatte heimlich ein paar kleine Brote und einen Krug Wasser in das Boot geschmuggelt, und dieser Proviant hielt meine Mutter – und wohl auch mich – auf der Irrfahrt übers Meer am Leben. Anfangs gebrauchte meine Mutter den abgesengten Stummel ihrer Zunge, um Flüche auszusprechen, große wortlose Verwünschungen, bei denen selbst die Wolken über uns sich zusammenzogen und an den Rändern schwarz wurden. Bald jedoch hatte sie nicht mehr die Kraft zu fluchen. Nachdem eine Woche vergangen war, konnte sie nur noch am Boden des Bootes liegen, das Schultertuch zum Schutz vor der Sonne über den Kopf gezogen, und auf den Tod warten.
    Doch sie starb nicht, Miranda, und deshalb kam ich zur Welt. Also klage, wie es alle immer machen, deinen Gott dafür an, daß er die Kette der Ereignisse, die dich jetzt aus dem Kreis deiner Lieben
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