Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
spät zur Grausamkeit gekommen und habe gegenüber denen, die sie mich lehrten, einiges aufzuholen.«
    Sie trat ruckartig vor und faßte seinen Arm. »Ich wollte dir nichts zuleide tun, Kaliban. Mir war nicht klar, wieviel Schmerz du erdulden mußtest…«
    »Nein? Dann mußt du bewußt die Augen verschlossen haben.«
    »Vielleicht!« Miranda fing an zu weinen. »Ja! Ja, das habe ich. Aber ich hatte Angst! Ich war noch ein Kind, Kaliban, nur ein Kind! Es freute mich nicht, daß du mißhandelt wurdest, aber wie hätte ich mich meinem Vater widersetzen sollen?«
    Er faßte sie scharf ins Auge, die Muskeln in Hals und Armen angespannt, als hielte er mit Mühe einen Gewaltausbruch zurück. Doch als er ihr antwortete, waren seine Worte sanft.
    »Und nimmt das etwa niemals ein Ende? Wird die Dunkelheit einfach immer weitergereicht von einer Hand zur anderen wie ein Familienerbstück?« Er nahm sie bei den Schultern und zog sie an sich, so daß er sie beinahe wie ein Liebender im Arm hatte. Sie wollte sich an ihn sinken lassen, doch er hielt sie ein Stück von sich fern. »Wenn Gott den Blitz schickt, daß er dein Haus abbrennt, dankst und lobst du ihn dann dafür und lebst fürderhin für alle Zeit in Schutt und Asche? Oder räumst du die verkohlten Trümmer beiseite und baust dir ein neues Haus?«
    »Ich… ich verstehe dich nicht.«
    »Ich denke, du verstehst sehr wohl, Miranda. Irgendwo, irgendwann muß man endlich einmal die Verantwortung übernehmen.«
    Er schob sie behutsam von sich und schritt zum Fenster, wobei er mehrmals seinen Mantel um den Arm schlang. Sie sank auf die Knie.
    »O Gott«, jammerte sie. »Ich kann also gar nichts tun. Du wirst sie mir wegnehmen. Ich werde meine Tochter verlieren.«
    »Es hat den Anschein, als hättest du sie bereits weitgehend verloren. Aber es stimmt, du wirst leiden, und du wirst bereuen. Wenigstens hast du den schwachen Trost, daß sie ihre Wahl selbst getroffen hat. Das ist besser als nichts, oder?«
    Miranda schwieg. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    »Komm, Kleines!« rief er. »Es wird Zeit. Die Wache hat gewechselt, und sehr bald werden sie ihren fehlenden Kameraden suchen kommen.«
    Das Mädchen ließ den Deckel einer Truhe zufallen. Sie hatte einen schweren dunklen Umhang an und einen Ausdruck nervöser Entschlossenheit im Gesicht.
    »Jetzt?«
    Das Ungeheuer nickte, dann stieß er seinen umwickelten Arm durch eine Fensterscheibe nach der anderen. Ein nicht enden wollendes Scherbengeriesel klirrte auf einen tieferliegenden Teil des Daches.
    Als das getan war, brach er vorsichtig das hölzerne Fensterkreuz heraus. Ein kalter Wind pfiff durch den Raum, die Kerzenflamme warf tanzende Schatten.
    »Du würdest gut daran tun, dir eine Lüge auszudenken, Miranda«, sagte er. »Andernfalls könnte jemand bei unserer Verfolgung zu Schaden kommen. Ich möchte keine Unschuldigen verletzen, aber ich werde mich nie wieder fangen und wie ein wildes Tier behandeln lassen.« Seine Stimme bekam eine verächtliche Schärfe. »Ich denke, für eine, die sich so gut auf die städtische Kunst der Täuschung versteht, wird das keine große Schwierigkeit sein. Überdies kannst du ihnen fast die ganze Wahrheit sagen, nur nicht, daß du weißt, wer der Entführer ist und wo er deine Tochter hinbringt.«
    Er schwieg einen Augenblick und betrachtete die auf dem kalten Fußboden kauernde Frau. »Denke daran, Miranda, ob ich nun ein Tier oder ein Mensch bin, du hast mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich habe kein Mitleid mit dir. Aber du bist eine Mutter, und selbst Kaliban hatte einmal eine Mutter, daher werde ich dir noch folgendes sagen…«
    Er trat ans Fenster und winkte Giulietta. Sie zögerte, dann lief sie zu Miranda, umarmte sie und drückte ihre tränennasse Wange an die ihrer Mutter. Schließlich machte sie sich aus der verzweifelten mütterlichen Umklammerung los und stellte sich zitternd neben die dunkle Gestalt.
    »O Gott«, flüsterte Miranda. »Ich wünschte… ich wünschte…«
    Er hob die Hand. »Höre mir zu: Ich werde sie mit genau der gleichen Achtung, Freundlichkeit und Liebe behandeln, die ich einst dir erwies. Das schwöre ich bei allen Geistern meiner Insel.« Er blickte die kleine Person neben sich an.
    »Jetzt wirst du dich also entscheiden müssen. Wenn ich das Ungeheuer bin, das ich für dich und deinen Vater war, dann solltest du augenblicklich loslaufen und die Türen aufreißen und um Hilfe schreien. Denn wenn ich eine solche Bestie bin, dann ist keinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher