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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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überraschende Szenen wie in Elfenbeinrelief geschnitzte mächtige
Drachen und Phönixe oder exotische Vögel, die aussahen, als würden sie
Künstlern Modell stehen, wenn sie sich auf malerischen Felsen an türkisblauen
Teichen niederließen. Einer dieser bunten Vögel war es, der meine Blicke von
der Suche ablenkte, und es dauerte einen Augenblick, bis ich merkte, daß das
Leuchten nicht ausschließlich von seinem Gefieder ausging. »Da !« rief ich.
    Hinter einem Spalier von
Granatapfelbäumen ragte eine hohe dünne Stange auf, an deren Spitze eine
tiefrote Flagge hing. Meister Li ließ die Träger am Goldenen Fluß abbiegen und
durch das Tor der Vereinten Harmonie auf den Gebäudekomplex zuschreiten, in dem
er zwanzig Jahre seines Lebens vergeudet hatte, wie er es ausdrückte. Dann
ließen wir die Halle des Literarischen Ruhmes, die Halle der Verkündeten
Intelligenz und die Halle der Verehrung für den Meister (die nach Ch'ang-an die
zweitgrößte Bibliothek der Welt ist) hinter uns, als wir dort, im großen Vorhof
zur Halle der Literarischen Tiefe, links vom Eingang, den Seelenpfahl
entdeckten, unter dessen roter Fahne das Banner eines hohen Gelehrten wehte,
der berechtigt war, alle vierzehn Symbole akademischer Würde zu zeigen:
Wunschperlen, Musikstein, Glückswolken, Rhombus, Rhinozeroshornbecher, Bücher,
Bilder, Ahorn, Schafgarbe, Bananenblatt, Dreifuß, Kraut der Unsterblichkeit,
Geld und den silbernen Schuh.
    »Dieses Banner kürzt die
Liste der möglichen Opfer erheblich ab«, erklärte Meister Li fröhlich. »Hat man
auch nur einen Ton darüber gehört, daß einer der höchsten Gelehrten des Landes
seinen letzten Atemzug getan hat? Nein, hat man nicht, und jetzt fange ich an,
zu glauben, daß mein Verdacht Gewißheit wird .« Als wir
das Außentor durchquerten, sahen wir, daß es im Hof von Wagen und Sänften
wimmelte, die wie unsere mit Trauertüchern verhangen waren. Ein Schwärm
jüngerer Mandarine verneigte sich tief vor Meister Lis Hut und seinen
Rangabzeichen, denn er hatte den ganzen Firlefanz, einschließlich der Symbole
kaiserlicher Ämter, die er seit sechzig Jahren nicht mehr ausgeübt hatte,
angelegt, und die Wirkung war beeindruckend. Er marschierte die Treppe hinauf,
als wäre er der Hauseigentümer, und wir betraten eine Eingangshalle von so
gewaltigen Ausmaßen, daß es fast schon grotesk war. Für die Felle, mit denen
die Wände neben Wandteppichen und -behängen bedeckt waren, hatte man die
Tierbestände etlicher Wälder vernichtet. Ein Teppich, der offenbar aus Hermelinfellen
gefertigt war, erstreckte sich über einen Hektar Fußboden bis zu einem
marmornen Podest, und auf dem Podest stand ein mächtiger Sarg.
    Ranghohe Mandarine
schritten äußerst würdevoll über den Teppich, um ihrem Kollegen die letzte Ehre
zu erweisen. Dann bemerkte irgend jemand Meister Li.
Ein scharf eingesogener Atemzug, Köpfe drehten sich, und es war faszinierend zu
beobachten, wie Augen nacheinander aufgerissen wurden und ein vornehmes Gewand
nach dem anderen zurückzuckte, als gelte es, die Berührung mit einem
Leprakranken zu vermeiden - fast wie ein Tanz, und Meister Li spielte seine
Rolle, indem er jeden der Zurückweichenden mit breitem Lächeln begrüßte: »Wang
Chien, lieber Freund! Welche Freude, daß diese unwürdigen Augen noch einmal in
deinen göttlichen Strahlen baden dürfen!« Und so weiter. Zuerst sagte niemand
sonst ein Wort, doch dann wurde das Schweigen gebrochen.
    »Kao! Bei allen Göttern, es
ist Kao! Warum ist es mir bloß nicht selbst eingefallen, dich in diesem
Durcheinander zu Rate zu ziehen ?«
    Der Mann, der sich mit
Hilfe von zwei Stöcken mühevoll zu Meister Li hinschleppte, war ausgedörrt,
verhutzelt, von Arthritis verkrümmt und älter, als ich es je für möglich
gehalten hätte. Ich hatte geglaubt, Meister Li hätte die Grenzen der
menschlichen Lebensspanne erreicht, aber dieser Mann verschob diese Grenze noch
um gut dreißig Jahre. Ich stellte fest, daß ihm im Vorübergehen tiefe
Verneigungen folgten und Meister Li ihn mit aufrichtiger Freude begrüßte.
    »Hallo, Chang! Wie geht's
dir denn so dieser Tage ?« erkundigte er sich
teilnahmsvoll.
    »Wie's mir geht? Senil bin
ich natürlich«, antwortete das hutzelige Männlein. »Vor ein paar Tagen hatte
ich eine lange Unterhaltung mit meinem ältesten Enkelsohn und wunderte mich,
wieso er plötzlich so kluge Reden schwang, bis mir plötzlich einfiel, daß er
seit zwanzig Jahren tot ist und ich merkte, daß ich mit dem
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