Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
Vom Netzwerk:
gellenden Schrei ausstieß. Darauf bückte
sich Meister Li, zog sein großes grünes Taschentuch hervor, und als er sich
wieder aufrichtete, hielt er einen zur Hälfte aufgefressenen menschlichen
Schädel in der Hand.
    »Kein Wunder, daß das
Ungeheuer verärgert war. Die Grabräuber haben ihn beim Essen gestört«, erklärte
er freundlich. Der Kopf war vom Körper abgerissen worden, und mit dem ekligen
Gewirr von Sehnen und dem Stück Wirbelsäule, das herausbaumelte, sah er aus wie
ein widerwärtiges Meeresgeschöpf. Niemand würde den armen Kerl identifizieren
können, dessen Gesicht der Leichenfresser verspeist hatte, und ich habe selten
einen unappetitlicheren Anblick ertragen müssen. Meister Li wies die Soldaten
an, sich in der Gegend umzusehen, für den unwahrscheinlichen Fall, daß sich der
Körper in der Nähe befand, dann legte er den Kopf zu dem übrigen Durcheinander
und schickte die Soldaten, versehen mit einem Schreiben an den Siegelbewahrer,
in dem die Leistung des Hauptmanns gepriesen wurde, zum Palast. Der Kohlenhügel
ist die Residenz der wohlhabendsten Familien von Peking, und als ich mit
Meister Li am Rande des Friedhofs angelangt war, bot sich uns das herrlichste
Panorama, das man sich vorstellen kann: Zu unseren Füßen breitete sich die
ganze Stadt aus, und unmittelbar unter uns erblickte ich die rosenbewachsenen
Mauern, das smaragdgrüne Blattwerk und die blauen, gelben und roten Dachziegel
der Verbotenen Stadt. Der alte Mann wippte mit hinter dem Rücken verschränkten
Händen auf den Fersen auf und ab und pfiff unmelodisch vor sich hin. Ich
stellte verwundert fest, daß er so fröhlich war wie ein Floh bei der Inspektion
der kaiserlichen Hundehütten.
    »Ochse«, verkündete er,
»die Götter haben beschlossen, uns für die scheußlichen Erlebnisse bei der
Verfolgungsjagd auf den Wirt Sechsten Grades Tu zu entschädigen .« »Meister ?« entgegnete ich.
    »Besorge viele Pinsel,
Tinte und Notizbücher«, fuhr er gutgelaunt fort. »Es wäre vielleicht eine nette
Geste, Flaccus dem Vierten einen Bericht dessen, was sich demnächst ereignen
wird, zukommen zu lassen .«
    »Meister ?« wiederholte ich.
    Er langte unter seine
vornehmen Gewänder, zog seine übelriechende Ziegenhautflasche hervor und
entstöpselte sie, worauf mir ein solcher Alkoholdunst entgegenwehte, daß es mir
den Atem verschlug.
    »Ochse, irgend etwas an
diesem angefressenen Kopf ist fast ebenso ungewöhnlich wie das Wesen, das ihn
zwischen den Zähnen gehabt hat«, bemerkte Meister Li. »Die letzte Kritik
unseres Barbarenfreundes aus den Sabinerbergen hatte etwas mit Fischen zu tun,
und wenn ich mich nicht sehr irre, kommt ein neuer Fall wie ein mächtiger
weißer Wal auf uns zugeschwommen.« »Meister ?« entgegnete ich.
    Er schüttete einen halben
Liter von dem Fusel in sich hinein, und ich machte mir flüchtig Gedanken, ob
ein Leichenfresser das überlebt hätte.
    »Ein bleicher Leviathan«,
sagte er. »Mein Junge, die Fontäne schießt hoch bis zu den Sternen, und seine
Kielwelle erschüttert küstennahe Inseln, während er uns entgegenschwimmt und
heilige Meere mit der furchteinflößenden Unbeirrbarkeit eines Eisberges durchpflügt.«
»Oh«, sagte ich.
    2
    Früh am darauffolgenden
Morgen bewegte sich eine mit weißen Trauertüchern verhangene Sänfte, hinter der
die Rauchwolken aus den Opfergefäßen herwehten, die Kaiserliche Straße zum Tor
des Untadeligen Betragens hinauf. Ein Bonze und ein Tao-shih gingen, auf einen
Gong und einen hölzernen Fisch schlagend, dieser Sänfte voraus. Ich hatte keine
Ahnung, warum ich, gekleidet wie für ein aristokratisches Begräbnis, neben
Meister Li in dem Ding saß. Meine Erfahrung mit dem alten Mann hat mich jedoch
gelehrt, den Mund zu halten, wenn sich die Falten um seine Augen zu
konzentrischen Kreisen zusammenziehen, und so wartete ich, bis die Anspannung
aus seinem Kopf und aus seinem Gesicht gewichen war, worauf er sich schüttelte
und sich mir zuwandte. »Ochse, warst du je in der Verbotenen Stadt ?« Natürlich nicht. Ich war, wie er genau wußte, alles
andere als ein Mandarin oder ein Mitglied des kaiserlichen Gefolges. »Das ist
unser Ziel. Ich habe Gründe für die Annahme, daß dort etwas sehr Merkwürdiges
vor sich geht«, erklärte Meister Li. Er fuhr mit der Hand in sein Gewand und
zog eine Feuerperle hervor. (Ich weiß nicht, wie sie von den Barbaren genannt
wird. Es ist ein konvexes Stück Kristall oder Glas, mit dessen Hilfe
Sonnenstrahlen gebündelt und Feuer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher