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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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entfacht werden, und außerdem kann man damit
das Gesehene enorm vergrößern oder verkleinern. In meinem Dorf heißen sie
Groß-Klein-Steine.) Dann griff er in eine andere Tasche, aus der er
sein Taschentuch hervorzog, und als er es auseinanderfaltete, stellte ich fest,
daß ich auf irgend jemandes linkes Ohr starrte.
    Wo hatte er das Ohr her? Es
war säuberlich abgetrennt und wies nicht die geringste Spur von Blut auf. Da
fiel mir ein, wie Meister Li am Vortag von der Grabstätte der Familie Lin jenen
halb angefressenen Kopf aufgehoben hatte, und ich erinnerte mich, daß er allein
zurückgeblieben war, während wir anderen nach dem Rest der Leiche suchten.
    »Ja, ich habe mir die
Freiheit genommen, ein Stück vom Opfer des Ch'ih-mei an mich zu nehmen«,
bemerkte er ruhig. »Wirf einen Blick darauf und sage mir, ob du etwas
Ungewöhnliches siehst .« Eifrig nahm ich das
Taschentuch und hielt die Feuerperle dicht an das Ohr.
    »Die Haut ist so glatt, daß
sie eigentlich nicht echt sein dürfte, sie ist es aber doch«, sagte ich nach
einer Weile. » Irgend etwas füllt die Poren aus. Es ist
wie Butter, aber nicht ganz, und es hat einen eigenartigen Schimmer .« Ich riskierte es, das Ding zu betasten. »Es ist weich und
glatt, fast wie Speckstein, und das Zeug in den Poren ist ein ganz kleines
bißchen fettig .« Er verlangte die Feuerperle und das
Ohr zurück. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich habe Spuren der Substanz an den
Klauen des Dämons gesehen, und als wir den Kopf seines Opfers fanden,
bestätigte sich mein Verdacht. Das ölige Zeug ist eine hauptsächlich aus
ausgelassenem Ziegenfett hergestellte unvorstellbar teure Mixtur. Es handelt
sich um eine Zeremonienseife, die über die besondere Eigenschaft verfügt, der
menschlichen Haut einen samtigen Schimmer zu verleihen. Das Zeug wird fast
ausschließlich von Eunuchen und Dienern benutzt, die mit der täglichen
Aufwartung beim Kaiser betraut sind, und zwar in der Absicht, einen Abglanz der
Aura, die vom Sohn des Himmels ausgeht, zu suggerieren.«
    Es dauerte einen
Augenblick, bis ich das soeben Gesagte begriffen hatte, und dann wurden meine
Augen groß. »Meister Li, wollt Ihr damit sagen, daß ein Staatsbeamter von einem
Leichenfresser getötet und verspeist wurde ?« fragte
ich schockiert.
    »Es sieht so aus«,
antwortete Meister Li freundlich. »Und noch viel ungewöhnlicher ist die
Tatsache, daß auch nicht der kleinste Hinweis auf eine Unregelmäßigkeit hinter
den roten Mauern bekannt geworden ist. Nirgendwo auf der Welt ist man so
versessen auf Klatsch und Tratsch wie in der Verbotenen Stadt, doch ich habe
gestern abend alle nur erdenklichen Quellen überprüft und konnte nicht mehr in
Erfahrung bringen, als daß irgend etwas vor sich geht und daß es streng
geheimgehalten wird. Mein Junge, ein Staatsbeamter kann unmöglich verschwinden,
ohne daß es gewaltigen Staub aufwirbelt, und vergiß nicht, daß wir keine Spur
seiner Knochen oder seines übrigen Körpers entdecken konnten. Haben seine
Kollegen ihn etwa verschwinden lassen? Und wenn ja, was könnte Mandarine
bewegen, das Verbrechen des Jahrhunderts zu vertuschen?«
    Ja, wahrhaftig, was? Ein
Skandal von solchem Ausmaß, daß er das Reich erschüttern könnte, schien nicht
unmöglich, und als wir in die Kaiserliche Stadt einfuhren und zum Altar der
Erde und des Korns hinauffuhren, begann mir ein Satzfetzen im Kopf herumzugehen:
»...Monster, Mandarine und Mord... Monster, Mandarine und Mord...«
    Die Priester am Altar
verneigten sich in Ehrerbietung vor dem Toten, als unsere Sänfte vorüberzog,
ihre Pendants am Obersten Tempel der Vorfahren taten es ihnen gleich (» .. .Monster, Mandarine und Mord... Monster, Mandarine und
Mord...«), und konfuzianische Würdenträger tippten ehrerbietig an ihre Hüte.
Die Kaiserstadt ist eine von Mauern eingefaßte Enklave von Verwaltungsgebäuden
und aristokratischen Wohnsitzen, die rund um die Verbotene Stadt des Kaisers
angesiedelt sind, doch wer annimmt, daß unser Leichenzug durch eine so erlesene
Umgebung eine ernste und feierliche Angelegenheit gewesen wäre, hat noch nie in
Peking eine Sänfte gemietet. Möglicherweise habe ich einen irreführenden
Eindruck erweckt, ich will ihn also hier richtigstellen.
    »Scheeeiße !« schrie Ratte-huscht-über-die-Straße von seinem Platz
an der linken vorderen Trägerstange. »Warum setzt sich der dicke schwere
Knabe nicht in die Mitte und nimmt den dürren alten Vogel auf den Schoß? Die
Kiste ist aus dem
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