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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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klassisches Exemplar, daß er zur Illustration der berühmten
wissenschaftlichen Untersuchung durch den großen P'u Sung-ling, der Chronist
Seltsamer Begebenheiten, hätte dienen können.
    Er war über und über mit
langem, grünlich-weißem Haar bewachsen, in dessen verfilzten Zotteln der
Verwesungsgeruch hing. Seine riesigen roten Augen glühten wie feurige Kohlen,
von seinen Aasklauen tropfte das Blut eines Opfers, und seine gewaltigen
Tigerzähne funkelten im Sonnenschein. Das gräßliche Wesen bewegte sich mit
großen, mächtigen Schritten voran und hätte die Fliehenden gewiß im Nu
eingeholt, wäre es in gerader Linie gelaufen. Statt dessen wankte und torkelte es und hieb die Klauen in hilfloser Wut durch die Luft, bis
es schließlich gegen den Karren eines der Händler prallte und mir klar wurde,
was Meister Li sofort erfaßt hatte. Das Ungeheuer war blind und im Sterben. Wie
Tante Hua mir immer gesagt hatte: »Nummer Zehn der Ochse, wenn ein Ch'ih-mei
hinter dir her ist, lauf ins Tageslicht! Die Sonne ist Gift für die lebenden
Toten !«
    Die alte Dame hatte recht
gehabt. Der Leichenfresser taumelte im Kreis herum, und als er sich dem
Hinrichtungsblock zu nähern begann, fuhr Teufelshand so abrupt herum, daß er
sich um ein Haar selbst halbiert hätte. Gerade hatte er sich angeschickt, das
mächtige Schwert auf den Block sausen zu lassen, als er unwillkürlich mitten im
Schwung innehielt, um die Klinge gegen das Unwesen zu richten, allerdings mit
dem Erfolg, daß er den Hals von Wirt Sechsten Grades Tu um einen Meter
verfehlte und das Schwert funkensprühend auf das Kopfsteinpflaster
niedersauste. »Zehntausendfacher Segen !« schrie
Goldzahn Meng, und alle Buchmacher Pekings fielen in ein ohrenbetäubendes »Geld-Geld-Geld-Geld-Geld ! «-Geheul ein, weil Teufelshand soeben seine
Chance, den Rekord zu brechen, vertan hatte und die Buchmacher vor dem sicheren
Ruin gerettet waren. Sie machten sich unverzüglich auf zu den wohlhabenden
Wettlustigen, denen sie Kredit gegeben hatten, und mischten sich unter die
tobende Menge, die in wilder Flucht dem Tor des Friedens und der Harmonie
zustrebte, um von dem Platz zu entkommen. Ich sah, wie eine junge Mutter die
beiden klatschenden Mädchen griff, sie sich unter die Arme klemmte und auf das
rettende Tor zurannte, wobei sie die abgeschlagenen Köpfe wie Kürbisse mit den
Füßen zur Seite stieß. Die Karren und Stände der Händler flogen in alle
Richtungen, zerborstene Bambusstangen und die in leuchtenden Farben bemalten
Leinwandbespannungen wirbelten durch die Luft und regneten auf Waren aller Art
herunter, mit denen der Platz übersät war. Nach einer erstaunlich kurzen
Zeitspanne war auf dem Gemüsemarkt keine Menschenseele mehr anzutreffen außer
Teufelshand, dem Wirt Sechsten Grades Tu, den Gerichtsdienern, die nicht
fliehen konnten, weil sie an den Wirt gekettet waren und die Schlüssel fallen
gelassen hatten und in dem Durcheinander nicht wiederfinden konnten, Meister
Li, dem Ungeheuer und mir. Meister Li sprang von der Ehrentribüne und ging auf
das Unwesen zu, als es auch schon gegen die Klagemauer hinter dem
Hinrichtungsblock prallte und auf den Rücken fiel. Ich rannte hinter Meister Li
her. Gerade, als ich ihn einholte, gab der leichenfressende Vampir ein
gräßliches Zischen von sich, schlug noch einmal mit den Klauen durch die Luft,
ein Zittern durchlief ihn, und dann lag er still da. Langsam erlosch das
furchtbare Feuer in seinen starren blinden Augen, und es bedurfte keines
Arztes, damit mir klar wurde, daß er tot war.
    »Vom Sonnenlicht gebraten,
das durch verwesendes Fleisch bis zu den lebenswichtigen Organen dringt«,
erklärte Meister Li sachlich.
    Verwesendes Fleisch, das
konnte man wohl sagen. Es roch entsetzlich nach Fäulnis, und der Gestank wurde
ebenso sehr von seinem eigenen Leib verursacht wie von den Fleisch- und
Knorpelresten der Person, die er kürzlich verschlungen hatte und die noch an
seinen Klauen und zwischen seinen Zähnen hingen. »Ausgesprochen reizend«,
bemerkte Meister Li ehrfürchtig. »Ein solches Exemplar hat man in Peking seit
tausend Jahren nicht mehr gesehen, und ich möchte zu gern wissen, warum es den
Schutz eines Grabes verlassen hat, um in der sengenden Sonne Selbstmord zu
begehen .«
    Die Antwort ließ nicht
lange auf sich warten, denn jetzt stolperten sieben weitere abgekämpfte
Gestalten durch das Tor der Immerwährenden Rechtschaffenheit. Ich erkannte in
ihrem Anführer Hauptmann Hsienpo von der Stadtwache,
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