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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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innerseelische Raum, in den dieser Mensch einkehren kann und wird, auch wenn er uns in der Außenwelt genommen würde. Diesen innerseelischen Raum in uns zu erschließen, in den die Sterbenden und die Toten heimkehren werden, in dem sie nie mehr verloren gehen können, ist außerordentlich wichtig für uns alle in der Altersphase, in der sich solche Verluste mehren, in der uns unersetzliche Menschen einer nach dem anderen genommen werden, die Menschen, die unser Leben bis hierher geteilt haben und somit Teil unserer Identität geworden sind. Der innerseelische Raum, in den sie alle gehören, ist auch der Raum unserer Identität, die unverletzt bleiben kann und soll, auch wenn sich schwere Verluste an nahen Verwandten und Beziehungspartnern und -partnerinnen ereignen und mehren.
    Eine Vorstellung hat sich mir selbst immer wieder als hilfreich erwiesen: dass zum Beispiel der Junge, der dieser Bruder damals während der Kriegszeit gewesen war, der Fünf- bis Siebenjährige, doch schon lange nicht mehr da war, sondern zuletzt in einer Gestalt als fast siebzigjähriger alter Mann existierte – und dass dennoch dieser Junge immer in meinem inneren Seelenraum lebt und bleibt, mit seinem Spielzeug-Lastwagen, den er jedes Mal mit unnachahmlichem Aufheulen losfahren ließ, ehe er mit meinem Pferd ein Gespräch in richtiger Menschensprache begann. So lernen wir schon während unseres ganzen Lebens die jeweilige Lebensgestalt eines lieben Menschen loszulassen, um uns auf eine neue einzustellen, während die bisherige innerlich aufgehoben wird, im Seelenraum, der unsere ganze Lebens- und Beziehungsgeschichte birgt.
    Ein Traum, der sich auf meinen jüngsten Bruder bezog, der mir als der Bub, dem ich schon eine kleine Mutter sein konnte, sehr nahe gewesen war, zeigt diese Verwandlung an: »Ich suche denkleinen Jungen, meinen Bruder, verzweifelt im Umfeld unseres Fluss-Schwimmbades, wo er untergegangen, ertrunken zu sein scheint. Ich suche ihn unter den Bohlen und schwimmenden Kanistern, kann ihn jedoch nicht mehr finden und gebe schließlich mit großem Kummer auf. Da sehe ich ihn auf einmal am Ufer, in einem Café sitzen, erwachsen, in eine Lederjacke gekleidet, und im Gespräch mit einer jungen Frau, die offenbar sehr attraktiv auf ihn wirkt.«
    Der Junge also, der mir zärtlich verbunden war, ist »ertrunken«, im Fluss der Zeit, im »Lebensfluss«, so sagt der Traum; doch lebt er als erwachsener Mann, der jetzt in die Beziehung zu einer Frau eintritt.
    So wie sich die Gestalten der Geschwister, der Freunde und der Freundinnen, der Beziehungspartner und -partnerinnen im Laufe des Lebens verwandeln, was sich oft anfühlt, als seien sie gestorben, so wird es auch am Ende ihres Lebens sein, wo sie für immer in unseren inneren Seelenraum einkehren, wo sie sich übrigens auch noch weiter verwandeln können. Das sehen wir, wenn wir, oft viele Jahre nach ihrem Tod, von ihnen träumen und an den Träumen erkennen, dass sie seither oft noch zu einer neuen Entwicklung und einer neuen Reife gelangt sind.
    Den Umgang auch mit den real sich wandelnden Gestalten der Freundinnen oder der Partner im Laufe eines Lebens kann man in diesem Sinne wie eine Vorübung dazu verstehen, sich schließlich auf ihre endgültige Verwandlung am Ende des Lebens einzustellen.
    In unserem inneren Seelenraum kann es auch letztlich zu einer Integration ihrer verschiedenen Gestalten kommen, die wir im Laufe unseres Lebens kennengelernt haben, wobei dann das Ganze auch hier mehr sein wird als die Summe seiner Teile. Wir ahnen dann auf einmal die ganze Gestalt eines Menschen, seine Ganzheit, das, was von »Gott« oder vom »Leben selbst« mit ihm gemeint sein mochte.
    Worauf ich hinaus will, ist die Frage, wie wir mit den immer häufigeren Abschieden und Verlusten im Lauf der späterenJahre umgehen, wie wir sie überhaupt ertragen sollen. Meine vorläufige Antwort ist: Es gilt, den inneren Seelenraum zu erschließen, in den sie alle aufgenommen werden können, die lebenden Angehörigen und Freunde – wie auch die Verstorbenen. In diesem Seelenraum leben sie alle, zusammen mit ihrer und unserer ganzen Lebensgeschichte, zu der auch schwere Erfahrungen wie Krieg und Flucht gehören können. Auf ihrem Zusammenkommen und Zusammengehören in uns beruht unter anderem unsere Identität, die sich auch an der Begegnung mit ihnen entwickelt hat.
    Die Intensität, die unsere Beziehungen gewinnen, wenn sie bedroht sind, wenn sie dem Abschied nahekommen, kann auch zu einer
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