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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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konnte, wie ich sie womöglich als Kind und Jugendliche noch gut an mir gekannt hatte. So entdeckt vielleicht manche Frau im Alter ihre Fähigkeit wieder, einen heiligen Zorn zu entwickeln, gerade wenn es um Dinge geht, die ihr lebenswichtig sind, sei es ihr Garten, sei es die Umwelt überhaupt, deren Bedrohung in letzter Zeit unübersehbar geworden ist. Eine meiner Freundinnen, jetzt über siebzig, findet zu ihrem alten unerschrockenen Kampfgeist zurück, wenn es um Mitwelt- und Umweltfragen geht, fallen dabei doch zugleich Entscheidungen über die künftige Lebenswelt ihrer geliebten Enkelkinder.
    Als Alte können wir wieder lernen, uns so wunderbar unangepasst zu verhalten, wie es die »unwürdige Greisin« bei Brecht in der gleichnamigen Erzählung tut, auf die ich noch zurückkommen werde, weil wir uns dem Zwang zur Anpassung, wer immer ihn vertritt, immer weniger unterwerfen, sondern – vielleicht endlich – unser Eigenes, unseren eigenen Stil leben wollen.
    Kürzlich traf ich einen Mann in den späten Sechzigern, der eben von einer Demonstration gegen die Chemiefirma zurückkam, in der er jahrzehntelang angestellt gewesen war. Deren lungenschädigenden Ausstoß, um den er all die Zeit gewusst hatte, konnte er nicht mehr ertragen.
    Männer allerdings können im Alter auch weniger aggressiv und gütiger werden als zuvor, weil sie eine angepasste Männlichkeitsfassade nicht mehr aufrechterhalten müssen.
    Was immer wir getan haben in unserem Leben – beruflich, ehrenamtlich, familiär oder auch privat –, nun kommt es darauf an, die Ernte einzufahren. Dies gilt vor allem für die sogenannten »Jungen Alten«, wie wir heute die Sechzig- bis Mitte Siebzigjährigen nennen, diejenigen auch, die bis Ende sechzig hinein noch im Beruf sind, wie die Selbstständigen oder die Freiberufler, die, bei entsprechender Kondition, noch bis in die Siebziger hinein tätig sein können.
    Was heißt aber für die Einzelnen, die Ernte einzufahren? So will eine 66-jährige Sonderschullehrerin mit eben diesem,einem besonders schwierigen Kind, noch »auf einen grünen Zweig kommen« – um dieses Kindes, aber auch um ihrer selbst willen. Da sie eine Zusatzausbildung in Kinderpsychotherapie hat, ist sie bereit, das Kind auch über die Schulzeit hinaus noch zu begleiten und zu behandeln. Ein 72-jähriger Zahnarzt will einmal noch im Leben ein neu entwickeltes Implantat einsetzen, auf dessen Entstehung und Freigabe er jahrzehntelang gewartet hat. Eine 75-jährige Psychotherapeutin freut sich so sehr darüber, dass ihre selbst entwickelte Methode endlich ankommt, endlich gefragt ist, dass sie einfach alle Einladungen zu Vorträgen und Workshops, die noch auf sie zukommen, annehmen will. Dorothee Sölle wollte nicht aufhören, »Gott zu verteilen«, wie sie ihre theologische Vortragstätigkeit nannte, auch als sie gesundheitlich schon stark beeinträchtigt war, so wie damals, als ich sie das letzte Mal antraf, wenige Wochen vor ihrem Tod, der sie dann in Bad Boll, während einer Tagung, einholte. Es war, nach menschlichem Ermessen, ein ihr gemäßer Tod, um den sie vielleicht sogar manche beneiden werden.
    Dieses Ernteeinfahren, und sei es für die Sache Gottes, wie wir meinen, kann allerdings in diesen Jahren auch auf Kosten unserer Kräfte gehen. So kann es passieren, dass wir uns unter dem Eindruck der knapper werdenden Zeit zu viel vornehmen. Auch Menschen, die nicht auf anspruchsvollen Feldern geistig tätig sind, werden im Alter auf ihre Art schöpferisch, fahren die Ernte ein, indem sie zum Beispiel noch eine Fremdsprache lernen, um ihr Gedächtnis, ihre Lernfähigkeit auszuschöpfen und um ihrer Liebe zu der Kultur eines bestimmten Landes Ausdruck zu verleihen. Vor allem aber beginnen viele zu reisen, um noch das von der Welt zu sehen, was sie unbedingt gesehen haben wollen, ehe sie sterben. Unter unseren Jahrgängen sind ja so manche, die durch die Lebensumstände und wirtschaftlichen Verhältnisse in bestimmten Phasen ihres Lebens gar nicht reisen konnten. Dies gilt gerade auch für die Bürger der damaligen DDR.
    Ich selbst habe vor kurzem auch einmal die wilden Tiere Afrikaserleben wollen, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte, und bin anlässlich eines Kongresses nach Kapstadt geflogen, um von da aus an einer Safari teilzunehmen.
    Manche alternde Menschen kommen allerdings aus dem Reisen gar nicht mehr heraus und können, wie sie zugeben, die zahllosen Eindrücke gar nicht mehr richtig verarbeiten. Andere wieder
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