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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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beschäftigen sich so eingehend – informativ und imaginativ – mit der Kultur und Natur eines Landes, das sie noch gerne erleben möchten, dass sie die Reise dorthin gar nicht mehr machen müssen. Wer hat wohl mehr von seiner Art des Reisens? Einige wenige wissen genau, was sie tun, wenn sie noch einmal im Leben den Boden von Nepal oder Tibet betreten und damit das Land ihrer spirituellen Sehnsucht kennenlernen wollen. Wir sollten allerdings im Alter nur noch in die Länder reisen, die für uns »eine Seele« haben, das heißt, mit denen wir in innere Resonanz treten können. Davon jedenfalls würden wir am nachhaltigsten beeindruckt. Viele Deutsche fahren im Alter noch einmal dorthin zurück, wo sie aufgewachsen sind, vor allem dann, wenn sie von dort durch die Folgen des Krieges vertrieben wurden: ins ehemalige Schlesien, ins ehemalige Ostpreußen, nach Pommern. Hier geschieht das Eintauchen in die Erinnerung, oft zusammen mit den erwachsenen Kindern der nachkommenden Generation, die nie dort gewesen sind und sich doch durch die Erzählungen der Eltern ein inneres Bild aufgebaut haben – und mit dem Einholen der Lebensgeschichte gewinnen wir oft auch die Fähigkeit des Loslassens.
    Noch einmal dort gewesen zu sein, um loslassen zu können, weil man erkennt, dass man es nun äußerlich nicht mehr braucht, weil man es innerlich mitnehmen kann, für immer, als »eine Heimat zum Mitnehmen« gleichsam – das kennzeichnet viele Lebensvollzüge im Alter. An manchen Orten, die man aus solcher Erinnerung heraus aufsucht, spürt man gleich, dass die Zeit nun auch reif ist, diesen Ort loszulassen.
    So erging es mir mit meiner allerersten Wirkungsstätte nachdem abgeschlossenen Studium, als ich sie kürzlich noch einmal aufsuchte. Die Menschen, mit denen ich damals besonders verbunden gewesen war, sind gar nicht mehr alle am Leben. Bestimmte Bäume, einige Rotbuchen vor allem, die mir damals lieb gewesen waren, sind längst gefällt – oder aber schier in den Himmel gewachsen und gar nicht mehr wiederzuerkennen. An diesem Ort meiner jungen Jahre, an dem ich intensive berufliche und menschliche Erfahrungen gemacht habe, fühlte ich mich plötzlich sehr alt, fast älter als ich bin. Die seit jener Zeit verstrichenen Jahre und Jahrzehnte erschienen mir sehr lang, und all die abgelebte Vergangenheit begann mich auf einmal auch zu bedrücken, erwies sich als mächtiger als das Neue, das ich an einem Wochenende, dort herzlich zur Mitarbeit eingeladen, aufnehmen konnte.
    Die Ernte einzufahren also ist das eine, wozu auch die Erinnerung an reich gelebtes Leben gehört, an Begegnungen, an erfüllte Beziehungen. Leben loszulassen ist das andere, das dem Alter, dem Alternden aufgegeben ist. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist dabei, dass ich dort am besten loslassen kann, wo ich am erfülltesten gelebt habe.
    Manchmal ist es mir, als täte sich hierbei eine Schere auf: zwischen den einen, die noch festhalten müssen, die sich an ihrem Stück Leben festklammern, weil es ihnen noch immer unerfüllt scheint und sich zu entziehen droht, ehe es sich erfüllen kann – ein verzweifeltes Unternehmen ist dies, wie wenn sich einer beim Schwimmen in einem starken Strom entgegen der Strömung an einem Ästchen festklammern wollte –, und den anderen, die loslassen und sich von der übermächtigen Strömung tragen und forttragen lassen, letztlich dem Meer entgegen. Es sind zwei konträre Möglichkeiten, sich dem unentrinnbaren Altern gegenüber zu verhalten.
    Und es ist auffällig: Wenn ich einen der Menschen besuche, die loslassen können, spüre ich etwas Angenehmes, etwas Befreites – Gelassenheit, ja, manchmal Gelöstheit. Gelassenheit übrigens ist ein Wort, das durch Meister Eckhart in unsere Sprache Eingang fand, im Grunde ein mystischer Terminus,dem letztlich auch ein mystisches Verhalten entspricht: sich lassen zu können.
    Zu den alten Menschen, die etwas von einer solchen inneren Freiheit haben, gehe ich gern, besuche sie mit Sympathie und nehme immer etwas Bereicherndes von diesen Besuchen mit, zumal ich mich im Umgang mit dem eigenen Alter nach guten Erfahrungen umschaue, die andere mit dem Älterwerden machen.
    Weniger gern gehe ich andererseits zu solchen alten Menschen, die sich nur noch als Verlierer des Lebens, als Opfer der Umstände fühlen, die sich festklammern am unentrinnbar sich entziehenden Leben – und die sich auch an denen festklammern, die ihnen einen Besuch machen, wie ich in dem Fall, nicht ohne dass von
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