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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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oder sieben Jahre alt, schmal wie Streichhölzer, die mit erstaunlich großen Knien vorgebeugt stehen. Ihr Lachen erinnert an Baumwipfel, die geschüttelt werden – voller Wind und Unbändigkeit. Die Jungen sind nur mit Badehosen bekleidet, bei beiden zwei Nummern zu groß. Der eine hat einen Nabel so tief wie ein Fingerhut, der andere eine glänzende Wunde auf dem Schienbein. Ihre Haare sind feucht und zerzaust, die Morgensonne scheint ihnen ins Gesicht, beide haben einen Schneidezahn verloren. Sie stehen auf etwas, was eine Klippe oder ein Steinblock sein könnte, ihre Zehen bohren sich in den rauhen Untergrund wie zwanzig feine, kleine Krallen. Einen Arm haben sie um die Schultern des Freundes gelegt, den anderen halten sie hoch – mit geballter Faust und entschlossen. Der Körperhaltung nach zu urteilen wollen sie gerade zu zweit ins Wasser springen.
    So sehen Freunde fürs Leben aus, denkt der Sohn. Wenn er blinzelt, verwandeln sich die Jungen in einen fülligen Menschen, wenngleich mit der doppelten Anzahl von Beinen und Köpfen. Der Riss in der Mitte des Bildes trennt die beiden allerdings. Als er das Foto behutsam knickt, um nachzusehen, deutet allein die fremde Hand auf der jeweiligen Schulter an, dass der Abgebildete nicht allein ist. Diese Hand erinnert an eine Epaulette. Als gäbe eine unsichtbare Macht, sechs oder sieben Jahre alt, aber dennoch ewig, den Dienstgrad fünf finger an – den höchsten Grad der Freundschaft zwischen Jungen.
    Einer der beiden wird ein Vater werden.

Synonymwörterbuch

    Agóri , jiós , adelfós , fílos , Paarspringer, Freiheitskämpfer, Ärmster, Gymnasiast, Bluthustender, Flüchtling, étudiant, Untermieter, ordentlicher Hörer der Wiener Universität, Freund, griechisches Schwein etc., Liebling, Zugreisender, der erste Grieche, Spüler, Aufs-Neue-Bluthustender, Sanatoriumspatient, Untermieter bei Karin Boyes Witwer, invandrare , Student, cand. med., Ehemann, Schwiegersohn, Schwager, Übersetzer, Dichter, Aushilfsprovinzialarzt, Vater, Dr. med., Chirurg, Bauherr, thíos , Schuldner, svensk medborgare , Micke, Sozialmediziner, stellv. OA, OA, Flottillenadmiral, Priv.-Doz. Dr. med., Kredithai-Geldempfänger, Prof., Großvater väterlicherseits, Dekan, Rektor, politisch unabhängig, danizómenos , Großvater mütterlicherseits, Mr. Parkinson, Rentner, Emeritus, afendikó , Der alte Mann und das Meer, Herr Demenz, Schwedenbesucher, Unfall, Bett 4, Zimmer 5, der Gesterbte –

Eine Armlänge entfernt

    Das Talent des Vaters, den Weg in andere Menschen zu finden, zu Stellen, an denen sie nicht fertig sind, sondern gewillt, sich zu verändern, ist vielfach bezeugt. Männer oder Frauen, die Reaktionen gleichen sich. Auch viele Jahre nach seiner Rückkehr in die griechische Heimat, der drei Jahrzehnte im Ausland vorhergingen, werden sich flüchtige Bekannte daran erinnern, was er gesagt oder getan hat. Fast immer geht es um Zeichen unerwarteter Fürsorglichkeit, eine kühne Tat, ein charismatisches Auftreten – es ist, als wolle er mit ihnen gemeinsam das Dasein feiern. Viele Anekdoten sind komisch. Entweder setzt er sich mit verschwörerischem Enthusiasmus über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg. Oder er versteht sie nicht, was der Erinnerung an die unfreiwilligen Situationen, in die er gerät, eine zärtliche Färbung verleiht.
    Ein Mann, bei dem der Vater studiert hat, erzählt, dass er ihn eigentlich durchfallen lassen wollte. Doch der griechische Jüngling mit den Sprachproblemen versicherte ihm, er habe den Stoff auf Deutsch gelernt. Nun wolle er doch zu Protokoll geben, dass es wesentlich schwieriger sei, die Zusammenhänge der inneren Organe in einer solchen Sprache zu lernen als auf Schwedisch. Außerdem werde dieses Idiom nach wie vor zu den Weltsprachen gezählt. Schulterzucken. Das war nun wirklich nichts, was der Student ändern konnte. Lachend erzählt der Mann, der selbst kein Deutsch spricht, dass er ihn bestehen ließ. »Nicht dass er gelernt gehabt hätte, aber fleißige Ärzte mögen zwar ein ruhiges Gewissen haben, doch gute haben Chuzpe.«
    Es ist schwer zu sagen, woher dieser Mut kommt, der sich zudem mit Frechheit vermischt. Vermutlich handelt es sich um eine Überlebensstrategie. Ohne Familie oder Bekannte, Geld oder Position kann sich der Vater nur auf sich selbst und seine Einfälle verlassen. Niemand wird ihn retten, wenn die Sache schiefgeht. Dabei ist sein Handeln jedoch selten berechnend. Er bereichert sich nicht und schwindelt auch nicht
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