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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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gedacht hätte. Während er das Papier zusammenfaltet, fragt er sich, wann der Bestatter zu seinem Büro zurückkehren muss. Momentan raucht er mit einem Kollegen auf dem Parkplatz. Aber schon bald findet er vielleicht, dass sie gehen sollten. Wird der Mann es wagen, ihn zu stören? Warten andere darauf, ihre Verstorbenen sehen zu dürfen? Übrigens ist schwedischer Hochsommer. Nimmt der Körper in dieser Hitze nicht Schaden?
    Er lässt sich wieder auf den Stuhl sinken. Keine Dramatik. Dort liegt der Vater, hier sitzt er. Sie sind viele Male zuvor allein gewesen. Dies wird das letzte Mal sein. Er schaut auf die Uhr und beschließt, für jeden Tag, den man trauern soll, eine Minute zu bleiben. Weil er nicht weiß, wie er sonst Abschied nehmen soll? Weil das der Anzahl an Streichhölzern in einer Schachtel entspricht?

Unsortierte Gedanken zwischen 15.03 und 15.43

    »Du liegst, wie du gelegen hast, seit du vor einem Jahr die Kellertreppe herunterfielst. Regungslos, mit hochgeschobenen Ellbogen, wie aus Zweigen gemacht.« »War ja klar, dass du aufstehen wolltest, als man dich kurz allein ließ. Aber du wusstest nicht, wohin du die Füße setzen solltest. Stürztest stattdessen.« »Siebzig Kilo Mensch, dreißig Zentimeter Fallhöhe, Querschnittslähmung.« »Niemehrniemehrniemehr.« »Imperfektpapa?« »Weißt du, mir will dieses Kind mit den leeren Händen nicht mehr aus dem Kopf.« »Wenn man das Wort ›Ikaros‹ auseinanderpflückt, lassen sich aus den Buchstaben neue Wörter zusammenfügen. Zum Beispiel mein Name + ›ko‹.« »Hier hast du deinen Sohn, ausgeknockt!« »Wie kann ich dich schützen?« »Du starrer Wirrwarr aus Gliedern.« »Du Labyrinth.« »Ich würde dich gerne auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Ein Paparat. Gemacht aus allem, was du bist, wenn du nicht bist wie hier.« »So viel von dir war Freude. Mit ihr erfandest du dich selbst. Träume und Übertreibungen gehörten dazu. Auch Einfälle. Was soll ich jetzt mit alledem anfangen?« »Es benutzen, um dich umzubauen?« »Dich zum Anfang zurückerzählen?« »Mikado mit vierzig Streichhölzern. Wenn alle Hölzer entfernt sind, bist du kein Papa mehr. Nur die Zukunft bleibt.« »Prachtvoller Mensch, deine Süße ...« »Wer ist (wie) du?«

Baugenehmigung

    Für einen Paparat benötigt man Ellbogen. Sie brauchen nicht abzustehen wie Flügel oder Winkelhaken. Sie brauchen nicht starr zu sein. Sie brauchen nicht so eckig zu sein, dass man sie für Hölzer halten könnte. Sie brauchen nicht so mager zu sein, dass es schwerfällt, sich die vielen Gelegenheiten vorzustellen, bei denen ein Kind seinen Kopf in der Armbeuge ruhen ließ oder sein Ohr in der Hoffnung gegen den oberen Muskel presste, den Geheimnissen der Kraft auf die Spur zu kommen. Aber wenn die Ellbogen nach außen abstehen, starr und hart, mager und eckig sind, sollen sie zumindest zu einem Vater gehören.

Mit der Hand auf der Klinke

    Bevor der Sohn das rote Zimmer verlässt, denkt er, dass der Vater auch aus Mythen bestand. Da ist die Geschichte von einer wild gewordenen jiajiá , die ihn wie eine Trophäe hochhält, als er erst ein paar Tage alt ist, um ihn vom Balkon des Elternhauses im südlichen Griechenland zu werfen, weil er als siebtes Kind das eine zu viel ist und das Leben seiner Mutter aufs Spiel gesetzt hat. Da ist der Dorfarzt, dem es gelingt, die alte Frau zu besänftigen, und der viel später zur Berufswahl des Vaters beitragen wird. Da ist die Frau selbst, die das Kind mit der Zeit lieben wird, als wäre es der wichtigste Teil ihrer selbst, und da ist der Schullehrer, der einen klugen Kopf erkennt, wenn er ihn vor sich hat. Da ist der Apfelsinenhain, durch den der jugendliche Vater mit einem Cousin spaziert, und da ist eine Freundschaft, so stark wie Holz und Eisen. Aber da sind auch der überstürzte Aufbruch aus dem Heimatdorf und eine so verschworene Gemeinschaft, dass sie die Familie durch die langen, harten Jahre trägt.
    Der Vater enthält vieles, was den Sohn beschäftigt. Wenn er ihn in die Zeit vor dem Anbeginn der Welt zurückerzählen will, kann dies keinesfalls ohne die Mythen geschehen. Auch nicht ohne die Dinge, über die sich der Vater lieber in Schweigen hüllte, wodurch immer wieder eine Leere entstand, die durch Vermutungen gefüllt werden musste. Als der Sohn nach der Klinke greift, denkt er, dass auch so etwas dazugehört. Und dass deshalb sowohl Fakten als auch Phantasie erforderlich sein werden, um den Vater noch einmal zu machen. Dann
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