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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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Aufforderung. Spricht der Ältere ein anderes Idiom als das angesprochene? Wie soll der Jüngere ihn dann verstehen? Und wenn nicht, warum muss der Jüngere es erst lernen? Spricht er es denn nicht schon, zumindest so gut, dass er die flehende Bitte verstehen kann?
    Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Der Vater, der sich von seinem Vater nicht verabschieden konnte, greift auf alle nur erdenklichen Arten zurück, seinen Kindern seine Sprache beizubringen. Die Rückreise ins Heimatland führt über Vokabeln, die so alt sind wie Götter oder zumindest Amphoren. Andere Möglichkeiten werden nicht genannt. Der Zoll, der am Grenzübergang entrichtet werden muss, besteht aus einer Erklärung im Präsens Indikativ, erste Person Singular: »Ich spreche Griechisch.«
    Anfangs müssen die ältesten Söhne ihre Wochenendvormittage über den eigenhändig komponierten Vokabellisten des Vaters verbringen. Später bestellt er Bücher bei einer Firma in Athen. Aber diese Drucksachen enthalten zu viel Schriftsprache, weshalb sie rasch aussortiert werden. So reden nur Pfarrer und Obristen. Das ist der Ton der Kirche und des Kasernenhofs. Da die Jungen die Gefahr einer ihm drohenden Gefängnisstrafe bereits als eine heimliche Auszeichnung betrachten, gelangen sie zu dem Schluss, dass es ein gutes und ein böses Griechisch gibt. Das gute wird von Auslandsgriechen gesprochen, ist modern und setzt nur über betonten Silben Akzente. Dass es dem Vater nicht gelingt, den Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ zu erklären, sehen sie als Beleg dafür, dass die Sprache von Menschen in der Diaspora laufend modernisiert wird. Das böse Griechisch besteht aus einem Wirrwarr diakritischer Zeichen, verkompliziert das Kasussystem und erinnert einen am ehesten an eine Gefängniszelle. An Regeln gekettet kann sich keiner so bewegen, wie er will. Außerdem riecht das Idiom nach Weihrauch und Waffenfett.
    Als schwedische Universitäten in den siebziger Jahren ihr Betätigungsfeld erweitern und für Frauen und Freundinnen von Gastarbeitern Abendkurse anbieten, hocken die Kinder über Arbeitsblättern, auf denen sie den Unterschied zwischen dem Akkusativ der Anklage und dem Dativ der Gabe ausloten können. Und ein paar Jahre später wird der staatlich verordnete Unterricht in der Muttersprache eingeführt – drei zusätzliche Schulstunden in der Woche, in denen sie sonst Fußball spielen könnten. Unterrichtet werden sie von einem Bekannten der Familie, einem Philologen, der ein properes Schwedisch spricht, auf seinem Schnäuzer kaut und verlegen erklärt, dass er sie nur mit befriedigend benoten könne. Sonst werde ihn die Schulleitung der Bestechlichkeit aus Freundschaft bezichtigen.
    Die meisten Bemühungen des Sohnes erweisen sich als vergeblich. Als Sechsjähriger ist er viel zu bockig, um sämtliche Vokabeln zu lernen, als Zwölfjähriger antwortet er »Ja, ja«, ohne den Erklärungen zu lauschen, als Sechzehnjähriger lässt er sich immer neue Entschuldigungen einfallen (»Ich habe Training«, »Wir schreiben morgen eine Arbeit«, »Ich lese lieber Nerval« ...). Sein Repertoire an Ausreden wächst Jahr für Jahr. Genau wie sein schlechtes Gewissen. Wie bei einem bösen Erbe ahnt er, dass das Griechische nicht nur zu einer Bürde, sondern auch zu einer Niederlage werden wird – der endgültige Beweis für seine Unfähigkeit, den Erwartungen zu entsprechen. Außerdem fragt er sich, wie er jemals seine Pflicht erfüllen können soll, wenn er doch nie mehr als ein Befriedigend erreichen wird. Gleicht der Weg zur Muttersprache nicht einem Bußgang?
    Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Am Fußende sitzend überlegt der Sohn, was dieser Satz bedeutet, während sich der Vater fortträumt – an einen Ort ohne Zölle und Drill, an dem die roten Häkchen nie in Habtachtstellung stehen werden.

Daredevils

    Graues Licht, Wind, einzelne Schauer. Es ist ein Januartag zu Anfang des neuen Jahrtausends. Der Vater erkundigt sich, ob der Sohn Lust habe, ihn hinauszubegleiten. Er steht in Strümpfen, hat die russische Mütze jedoch schon aufgesetzt. Seine Augen leuchten lausbübisch. Der Sohn schnürt ihm die Stiefel zu, zieht den Reißverschluss der Jacke hoch. Dann nimmt der Vater den Stock, der an das Sommerhaus gelehnt steht, und geht zu den Hunden, die vor Freude wild bellen. Wegen seiner Krankheit fällt es ihm schwer, differenziertere Bewegungen auszuführen oder sich schnell zu bewegen. Als er die Tiere angeleint hat,
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