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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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Finger in die Stofftasche schiebt, den Strumpf an der Fußsohle entlangführt, in den Zehen einhakt und danach gleichzeitig den Fuß vorschiebt und die Hand herauszieht. Aus all diesen Handlungen spricht Ehrfurcht. Der ausländische Vater feiert das Dasein, indem er die Dinge ernst nimmt.

Zwei Pflaumen

    DER GESTERBTE : Es scheint, als wüsstest du mehr über mich als ich selbst.
    EIN SOHN : Das ist nur eine Frage der Perspektive ...
    DER GESTERBTE : Du meinst, dass es keine Rolle spielt, aus welchem Blickwinkel man einen Menschen betrachtet?
    EIN SOHN: Mm-n. Aber ich denke oft daran, wie du einmal gesagt hast, du fühlst dich wie ein Haus, das umgebaut wird.
    DER GESTERBTE : So habe ich mich gefühlt, seit ich sechzehn war und von der Sonne geblendet wurde.
    EIN SOHN ( zeigt mit der Hand ): Das hier ist nur Papierpflege. Bietet kaum Schutz. Aber die Wände bestehen aus wirklichen Ereignissen, auch wenn ich nicht davor zurückgeschreckt habe, Vermutungen einzubauen. Oder die Verhältnisse zu verändern. Ich glaube, du weißt, warum. Übrigens frage ich mich, wieso soll ein Mensch kein Labyrinth sein dürfen? Ist das nicht jeder?
    DER GESTERBTE : Ich höre Zweifel.
    EIN SOHN : Zweifel, vielleicht Abschied. Wenn es Zeit wurde zu fahren, standest du immer mit erhobener Faust auf der Veranda. So will ich dich halten. Wie eine Walnuss. Wie eine Sonne. Wie tausend unsichtbare Ereignisse.
    DER GESTERBTE : Kläffer, als du noch im Kinderwagen lagst, habe ich deine Füße gehalten. Du hast getreten wie ein Uhrwerk, eine perfekte kleine Maschine. Zum Auszug geboren. Ich umschloss sie und dachte, dass sie kaum mehr wiegen als zwei Pflaumen. Trotzdem machtest du damals schon, was du wolltest. Die Füße zeigten mir, dass du nicht aufzuhalten sein würdest.

Die letzte These über ausländische Väter

    I. Die Hände eines ausländischen Vaters lehren einen Sohn, wie man mit einem Menschen haushält.

III

Der siebenunddreißigste Januar

    Er ist achtundzwanzig Jahre alt, als er auf dem Teppich kniet, den seine Mutter ihm vor so langer Zeit mitgab. Die Füße seiner Frau zittern beidseits seiner Knie. Schöne Zehen, hochgedrückte Fersen. Das Nachthemd hängt schwer von Feuchtigkeit zwischen den bebenden Waden. Die Wehen haben vor einer halben Stunde eingesetzt, gerade kündigt sich die nächste an. Sie will nur noch diese abwarten, dann werden sie sich auf den Weg machen. Das Taxi ist schon bestellt. Als sie die Arme um den großen Bauch mit dem Knopf legt, denkt er: Eine riesige Apfelsine. Eine Galaxie. Die andere Hälfte der Sonne.
    Er stellt sich vor, wie es sich darin bewegt, im warmen Raum des Wassers, und sieht zehn durchsichtige Finger vor sich, die unter dem Kinn eingerollt werden, dazu eine verträumte, siegessichere Miene und zwei Rosinen als Füße. Die unsichtbare Hirnschale glänzt wie ein Perlmutthelm, das unsichtbare Haar liegt glatt an wie ein blau schimmernder Pelz. Die Ohren sind unsichtbar, aber zart und perfekt, aus Porzellan, die Augen sind unsichtbar, aber streng und asiatisch, aus Dunkelheit. Unter den geröteten Lidern ruhen bilderlose Seen.
    Der Fötus holt gerade Schwung. Der Nacken beugt sich und der Rücken krümmt sich, wie um das Knäuel aus Haut und Adern und Haaren zu schützen, von dem sich ein wulstiger Strang ringelt. Ihr Kind ist endlich auf dem Weg, sein geheimes Universum zu verlassen, und ein Teil von ihm hofft, dass dies mit einem Penis als Ruder geschehen wird. Als er die Bewegungen unter seiner Handfläche spürt, schwach, aber beharrlich wie ferne Morsesignale, muss er jedoch an einen wedelnden Schwanz denken – was den Ausschlag gibt: Dieses Kind ist ein Kosmonaut der besonderen Art.
    Als die Ehefrau die Hand ihres Mannes auf ihren Bauch presst, als wäre es das letzte, was sie noch zu tun beabsichtigte, kann er sich ein Lachen nicht verkneifen. »Laika«, murmelt er und spürt die Feuchtigkeit um seine Knie. »Du leerst gerade deine Fruchtblase ...« Während sich die Flüssigkeit ausbreitet, erlebt er jedes Zittern unter ihrer Haut, als wäre es sein eigenes. »Ich glaube«, stöhnt seine Frau, die nicht hört, was er sagt – dann bricht sie ab. Sie wimmert, sie ringt nach Atem, die Luft wird aus ihr herausgesogen. Die Miniaturwelt da drinnen macht sich gerade bereit, in eine andere Sphäre einzutreten. Sechs seltsame Tage zu lange haben sie auf diesen Moment gewartet. Noch folgt der unsichtbare Satellit seiner eigenen Chronologie, aber bald wird er seine Umlaufbahn verlassen und
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