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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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stillzusitzen, stattdessen presst er die Zungenspitze gegen die Innenseite der Zahnreihe, lehnt sich vor und schreibt mit großen, übertriebenen Bewegungen. Daraufhin erkennt der ältere, dass sein Bruder den Vater nachahmt, und lächelt. Nun wetteifern sie darum, wer dem Lehrer am meisten ähnelt. Als dieser jedoch kommt, um die Listen zu kontrollieren, setzen sie sich schleunigst gerade hin. Es reicht allerdings, dass sich ihre Blicke flüchtig begegnen, um die beiden vor heiterer Rebellion beben zu lassen. Der Vater begreift nicht, was an Wörtern wie Auge oder Apfelsine so komisch sein soll. Er ärgert sich über den Rotstift, der nicht funktioniert. Er möchte, dass seine Söhne ordentlich dasitzen, wenn er ihnen die unterschiedlichen Fälle erklärt.
    Die Mutter schreitet ein. Immerhin hat die Lektion eine Stunde gedauert. Zeit für eine Zwischenmahlzeit.

Gespräch über die Sehnsucht

    Die Zeit: Abend. Der Ort: Der Balkon vor einem Schlafzimmer. Die Dunkelheit macht den Abstand zum Erdboden ungewiss, hier und da sieht man etwas, was Wühlmaushügel sein könnten. Personen: ein Ehepaar.
    SIE ( zupft die Strickjacke auf den Schultern zurecht ): Wir dürfen die Vergangenheit nicht unseren Kindern aufbürden.
    ER ( vergräbt die Hände tiefer in den Taschen ): Man kann unmöglich außerhalb der Geschichte leben. ( Sein Blick wandert von der Rasenfläche zu seiner Frau .) Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten. Im Gegenteil.
    Jemand zieht die Toilettenspülung. Im Flur hört man einen Sohn in sein Zimmer zurückkehren.
    SIE : Wer spricht denn von Scham? Unsere Sehnsucht müssen wir ihnen ersparen.
    Schweigen.
    ER : Aber was sollen sie denn ohne Sehnsucht machen? Ist sie nicht das einzige, was wir ihnen geben können?

Wie eine Faust

    Der Sohn versteht sich selbst nicht. Er hat kein Problem damit, österreichische Gerichte zu essen, aber abgesehen von lalangídes schmecken ihm griechische nur selten. Wenn er vor seinem Teller sitzt, dreht sich ihm der Magen um. Plötzlich hat er das Gefühl, eine Faust in den Bauch bekommen zu haben. Vor allem die Tomatensaucen wirken beunruhigend – als gehörte der rote Sud zum gleichen Blutkreislauf wie der Vater: fern, fremd, irgendwie zu empfindsam.
    Während der Sohn darauf wartet, sich selbst zu verstehen, wird er trotzig. Er kann nicht anders.

Kriegsgott im Hosenmatzalter

    An einem Herbsttag wird die erste Griechin aus einer ganzen Reihe von Kindermädchen eingestellt. Der Sohn braucht allerdings nicht lange, um den Eindringling mit den behaarten Unterarmen und dem eigenartigen Tonfall zu vertreiben. Die Frau erinnert ihn daran, dass die Welt nicht nur aus einem Land im Norden besteht, und es fällt ihm schwer, dies zu akzeptieren. Wenn sie mit ihm von Ausflügen zurückkehrt, sind ihre Augen rot unterlaufen. Der Junge hat gespuckt und sie mit Stöckchen geschlagen. Beim abendlichen Bad sorgt er dafür, dass ihre Versöhnungsversuche durch Beißen und Kneifen konterkariert werden. Als er endlich eingeschlafen ist, findet die Mutter das Kindermädchen am Küchentisch. Wortlos streckt sie ihre Arme als Beleg dafür aus, dass der Sohn seinem Namen alle Ehre macht. Den Farbschattierungen der blauen Flecken lässt sich entnehmen, an welchem Wochentag der jeweilige Angriff erfolgt ist.

Noch eine Wahrheit mit Präzisierung

    DER GESTERBTE: Herrenlos, das habe ich immer schon gesagt. Aber manchmal auch völlig durchgedreht ... Wie ein Hund.

Exodus

    Eines Nachmittags fragt die Mutter, ob der Sohn Lust habe, sie zu begleiten und den Vater im Krankenhaus abzuholen. Normalerweise umweht diese Fahrten ein Hauch von Abenteuer. Er darf auf dem Beifahrersitz Platz nehmen und kann für eine Viertelstunde den Erwachsenen spielen. Diesmal möchte sie jedoch, dass er seinen neuen Parka anzieht. Der Junge hasst das Kleidungsstück und weigert sich zu gehorchen. Am Ende bittet sie ihn, zu Hause zu bleiben. Minutenlang sitzt er am Küchentisch – ein Durcheinander aus Vorwürfen und Rotz. Hat er nun den Sieg davongetragen oder nicht? Als er erkennt, dass er den Kürzeren gezogen hat, schießt seine Wut durch die Knie hoch. Kaum hat die Mutter den Zündschlüssel gedreht, als er auch schon beschließt zu fliehen.
    Sobald er den Wagen jenseits des Bahndamms verschwinden hört, holt er einen Pullover aus dem Schrank und seine Stiefel vom Kücheneingang. Irgendwo gräbt er einen Rucksack aus, den er mit einem Toastbrot, Saft und einer Rolle Toilettenpapier füllt. Dann schreibt er
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