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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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einen Zettel – »An Mama. Ich bin wekkgelaufen.« – und bricht auf. Er hat keine Zeit gehabt, seine Flucht zu planen, entscheidet sich jedoch für die aus dem Dorf führende Eisenbahnlinie. Diese Route eröffnet ihm die Möglichkeit, sich von seinen Verstecken zu verabschieden. Bei dem Gedanken, sie niemals wiederzusehen, wird er traurig, aber bei jeder neuen Station seines Auszugs spürt er den Trotz wachsen. Der Zorn macht ihn einsam und stark, seinem Vater ebenbürtiger als je zuvor.
    Kaum hat er allerdings das Ortsschild an der Dorfeinfahrt gelesen, als er auch schon nicht mehr weiterweiß. Es ist eine Sache, zu verschwinden, eine andere, irgendwohin zu können. Plötzlich erstreckt sich vor ihm unbekanntes Terrain. Das einzige, worauf er sich verlassen kann, das einzige, was er besitzt, findet Platz im Rucksack und in der Gesäßtasche, wo das Geld aus dem Sparschwein liegt. Trotz der Freude darüber, sein eigener Herr zu sein, verwirrt ihn die Freiheit. Allmählich dämmert es ihm, dass das Leben auch Forderungen stellt. Selbst so selbstverständliche Dinge wie ein Schlafplatz und Waschgelegenheiten werden zu einem Problem. Ohne Familie gibt es keine verantwortungslosen Augenblicke.
    Nachdem er einen Acker überquert hat, versteckt er sich am Waldrand. Während er von seinem Proviant isst, denkt er nach. Er kann entweder den Zug nach Wien nehmen oder einen seiner Spielkameraden in den Nachbardörfern besuchen. Allerdings weiß er nicht genau, wo sie wohnen. Und wenn er es recht bedenkt, werden 3,25 nicht für die ganze Strecke zur Großmutter reichen. Dann entdeckt er den Chevrolet, der wie ein Rochen die Straße hinabgleitet. Bei dem Gedanken, Zeuge der Verzweiflung seiner Eltern zu werden, fällt ihm die Entscheidung nicht sonderlich schwer: Er wird sich zurückschleichen und seine eigene Abwesenheit ausspionieren.
    Als der Sohn den Acker erreicht, der eine Aussicht auf den Fußballplatz und das unterhalb davon gelegene Haus bietet, geht er hinter einem Heuballen in Deckung. Die Dämmerung hat sich herabgesenkt, und sein Blick sucht lange, bis es ihm gelingt, die Eltern im Garten auszumachen. Das Wissen, der Grund für ihre Sorge zu sein, erfüllt ihn mit bockigem Stolz. Vom Opfer ist er zum Richter geworden. Ohne es zu merken, beginnt er, sich seine Rückkehr vorzustellen, so dass es für einen Spielkameraden ein Leichtes ist, ihn zur Rückkehr zu überreden, als er ihn dort findet.
    Als sie die Küche betreten, will der Sohn gefeiert werden. Doch statt Fanfaren erwarten ihn ein Bad und das Bett. Es dauert ein paar Minuten, dann löst sich seine Enttäuschung in Schaum auf. Er weiß, dass er jederzeit fliehen kann. Nichts wird jemals wieder so sein wie vorher.

Im Licht der Bettlampe

    Der Vater, der am Bett des Sohns steht, fragt sich, ob dieser ein Mensch werden wird, für den die Wahrheit unzugänglich bleibt. Oder ob er sie im Gegenteil in der Hand halten wird. Er denkt an andere Jungen, denen Schneidezähne fehlen, und dass er selbst nicht immer zu sagen wusste, was Wahrheit überhaupt ist. Nur dass sie sich nicht leugnen lässt, wenn sie an den Tag gekommen ist. Brennt sie? Kühlt sie? Und was ist die Wahrheit über einen Wagemutigen, der einige Stunden zuvor seine Familie verließ? Während er die rosa Lider betrachtet – zuckende Bewegungen unter dünner Haut, Ränder aus Wimpern, die wie Insektenbeine glänzen –, denkt er an die farbigen Manuskripte des Mittelalters, in denen der Illuminator einen Schreibfehler mit einem Kranz aus Blumen und Flammen einkreist, den ein kleiner Teufel fortzuschleppen versucht. Ist dies auch eine Wahrheit, eingebettet wie ein Stachel ins Fleisch? Er löscht das Licht über dem Kopf des Auswanderers. Er mustert den offenen Mund mit dem Speichelfaden zwischen den Lippen, er küsst den verschwitzten Nacken. Geht auf Zehenspitzen lautlos hinaus.

Der Kellergrieche

    Ein paar Tage nach Neujahr sitzt in der chirurgischen Ambulanz, dem Arbeitsplatz des Vaters, ein unbekannter Mann. Er sagt nichts, verfolgt jedoch interessiert die Vorgänge – Patienten, die ins Behandlungszimmer gerufen werden, Zimmerpflanzen, die gegossen werden, Rohrpost, die mit diesem wischenden, von einem dumpfen Knall gefolgten Geräusch ankommt. Der Schnee auf seinen Halbschuhen schmilzt und bildet auf dem tanggrünen Linoleumboden eine körnige Pfütze.
    Als der Vater am Nachmittag in seinem weißen Kittel mit Kugelschreiberstrichen über der Brusttasche das Wartezimmer betritt, muss er nicht
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