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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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ziehen sie sofort, ungestüm und selig. Der Vater stolpert hinterher – stolz darauf mitzuhalten, heiter erschrocken über ihre Zugkraft. Der Sohn sieht sie durchs Gartentor verschwinden, zum Meer hinunter. Er kann beim besten Willen nicht entscheiden, wer hier wen führt. Daredevils , denkt er und sucht nach dem schwedischen Wort.
    Als er die Felder erreicht, auf denen die Bauern der Umgebung im Sommer Melonen anbauen, sieht er die Hunde das wellige Terrain überqueren. Die Tiere streben in verschiedene Richtungen, ihr Herrchen folgt ihnen mit ausgestrecktem Arm. Manchmal bleiben die Hunde stehen und streiten sich um den limettengrünen Tennisball. Dann holt der Vater sie ein und kann das Leinenknäuel entwirren. Noch aus der Ferne sieht man ihm den Spaß an dem Tumult an. Der Sohn schert sich nicht um den kalten Schweiß, der wohl auf seiner Stirn glänzen wird, oder darum, dass das Herz des Vaters unter dem Hemd sicher wie verrückt pocht. Aus den Olivenhainen hört man einzelne Schüsse; jemand jagt Singvögel. Hundert Meter entfernt tost das Meer.
    Am Strand werden die Hunde von der Leine gelassen. Sie sausen wie Geschosse davon. Regelmäßig spritzt feuchter Sand in die Luft. Im nächsten Moment laufen sie mit triefenden Schnauzen durchs seichte Wasser. Sie balgen sich und schnappen, wagen sich einen Meter hinaus, machen aber blitzschnell kehrt, wenn eine neue Welle heranrollt. Ab und zu schütteln sie in einer Wolke aus Sand und Meerschaum ihr Fell. Der Vater geht mit Stock und Hundeleinen in den Händen, spricht über nichts Besonderes. Gelegentlich pfeift er gellend oder ruft Kommandos. Der Sohn denkt, dass die Hunde seine neuen Kinder geworden sind. Neben ihnen zischen unablässig die grauen Wellen.
    Nach einer Weile muss sich der Vater ausruhen. Sie gehen zum schütteren Strandgras hinauf, suchen Schutz zwischen den Dünen. Der Wind hat aufgefrischt. Der Sohn nimmt die Hände des Vaters, hilft ihm beim Hinsetzen und setzt sich anschließend so, dass ihm der Sand nicht ins Gesicht weht. Als aus den Olivenhainen weitere Schüsse herüberschallen, zuckt der Vater zusammen. Sagt, dass seine Kinder niemals eine Waffe tragen dürfen. Er schaut sich um, vergräbt die Fäuste in den Taschen und beginnt, über den Bürgerkrieg zu sprechen, der ausbrach, als er sechzehn war. Er erzählt von einem Land in Not und unschuldigen Familien, die hart getroffen wurden, er versucht, unberührt zu erscheinen. Kurz darauf entdecken die Hunde, dass ihnen keiner mehr folgt. Sie schnüffeln aneinander, winseln und wirken unsicher, dann rennen sie pfeilschnell los. Als sie die Füße des Vaters erreichen, suchen sie seine Aufmerksamkeit. Er versucht, sie zu streicheln, kommt aber nicht an ihre Schnauzen heran. Dann greift er sich ans Herz, grimassiert.
    Draufgänger.

Abgang

    Die Generalprobe findet zwei Jahre vor dem Unfall in einem schwedischen Keller statt. Die Zeit: ein Tag Ende August. Der Ort: die Treppe, die zum Sommerhaus hinaufführt. In den Rollen: DER MANN (der Vater), DIE FRAU (die Mutter), zwei SCHÄFERHUNDE (der eine vom früheren Besitzer nach Jack Ruby benannt, der andere mit dem türkischen Wort für »Wächter«, veli , getauft), eine TELEFONSTIMME, RETTUNGSSANITÄTER .
    DER MANN (ein Grieche) tritt aus der Tür. Er setzt sich gerade einen Khaki-Hut auf. Die Füße stecken in Newport-Sandalen, die Klettverschlussbänder hängen lose.
    DER MANN ( ruft ): Bin in einer Stunde zurück!
    Er schließt die Tür. Als er den Riegel des Verandators aushakt, winseln und bellen am Fuß der Treppe die SCHÄFERHUNDE . Ihre Freude verleitet ihn dazu, seinen Sandalen keine Beachtung zu schenken.
    DER MANN ( lacht ): Wartet, ihr Kläffer, wartet ...
    Er versucht, sich zu beeilen, tritt jedoch auf einen der Klettverschlüsse, stolpert und fällt kopfüber. Irgendwie reißt er dabei die eine Torhälfte mit. Später wird es heißen, das Poltern habe geklungen wie brechendes Eis. DIE FRAU (eine Österreicherin) rennt hinaus, in der Hand ein Küchenhandtuch.
    DIE FRAU ( leise ): Du lieber Gott ...
    Sie eilt die Treppenstufen hinunter, dreht ihren Mann um, untersucht Kopf, Arme, Beine. Das Gesicht ist blutüberströmt. Den schwachen Reaktionen nach zu urteilen, steht er unter Schock und ist möglicherweise kurz davor, ohnmächtig zu werden. Sie wischt ihn mit dem Handtuch ab, muss aber auch das Kleid benutzen, um das Blut zu entfernen, das weiterhin von Nase und Kinn rinnt. Die Augen ihres Mannes schwellen zu. Auch an den Händen und
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