Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
Vom Netzwerk:
Knien blutet er stark. Als DIE FRAU sich vergewissert hat, dass er atmet, lässt sie ihn mit dem Handtuch unter dem Kopf liegen. Sie eilt die Treppe hinauf, dreht sich auf der obersten Stufe um, zögert kurz, die Faust auf den Mund gepresst. Dann geht sie zum Telefon im Haus und wählt die Nummer des nächstgelegenen Krankenhauses.
    TELEFONSTIMME : Ja?
    Der Hörer wird klebrig, während DIE FRAU erläutert, was passiert ist. Immer wieder stellt sie sich in die Tür und ruft DEM MANN zu, er solle wach bleiben.
    TELEFONSTIMME : Wir schicken einen Krankenwagen. Sorgen Sie dafür, dass er bei Bewusstsein bleibt. Aber versuchen Sie bitte nicht, ihn zu bewegen.
    Als die Frau zurückkehrt, hört es sich an, als wollte ihr DER MANN etwas sagen. Sie legt seinen Kopf in ihren Schoß, bleibt sitzen. Aus Angst, den Kontakt zu ihm zu verlieren, spricht sie die ganze Zeit mit ihm. Eine Stunde später trifft der Krankenwagen ein. Der Mann, der nicht am Steuer sitzt, steigt aus, wirft seine Zigarette fort, formt die Hände zu einem Trichter.
    RETTUNGSSANITÄTER ( ruft ): Die beißen doch nicht, oder?
    Er nickt zu den Hunden hin, die auf der Innenseite des Tors hochspringen.
    DIE FRAU ( streng ): Rubis! Velis!
    Die Hunde trotten zu ihrer Hütte. Ihre Schnauzen sind rot.

Pfui Teufel

    Als sich der Vater erholt hat, wird er fotografiert. Auf dem Bild sitzt er aufrecht im Bett, mit einem Verband um den Kopf. Seine Augenhöhlen sind lila und blau, die Wangen von Schürfwunden vernarbt. Im offenen Pyjamakragen sieht man Blutergüsse von der Größe verfärbter Sonnenrosen. Am ehesten ähnelt er Hemingways griechischem kleinen Bruder. Er strahlt, so gut es geht, flucht erleichtert auf Deutsch. Glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben.

Unter der Haube

    Brenzlige Situationen gibt es vor dem Unfall bei einem Besuch in Schweden eine Reihe. Wenn keine Sandalen Mätzchen machen oder Marmorböden spiegelglatt werden, fällt der Vater stattdessen, wenn er zu nächtlicher Stunde aus dem Bett aufstehen möchte, oder der Duschvorhang gibt nach, als er so lange die Balance zu halten versucht, dass er aus der Badewanne steigen kann. Am schlimmsten sind jedoch die Medikamente. Die Pillen aufeinander abzustimmen ist ähnlich kompliziert wie die Wartung eines Formel-1-Boliden. Es ist eine Sache, die Vorschriften einzuhalten – das kann jeder mit ein wenig Sinn für Ordnung. Eine andere ist es jedoch, die wechselseitige Beeinflussung der Medikamente zu berechnen. Eine Woche funktioniert eine bestimmte Kombination. Die Mutter nimmt die Feinjustierung der Dosierungen vor, sorgt dafür, dass die Pulver zu festen Uhrzeiten eingenommen werden, und betrachtet zufrieden ihr Werk. Plötzlich hat ihr Mann etwas von seiner alten Rüstigkeit zurückbekommen. Mit gespielter Sorge erklärt sie: »Demnächst fängt er noch an zu joggen.« Sie empfindet den gleichen Stolz, den ein Mechaniker verspüren muss, wenn er die letzten Dichtungen angezogen hat und den Wagen aus dem Depot rollen sieht – sanft schnurrend, eine Katze mit V8-Zylindern.
    Doch diese Phasen pharmazeutischen Glücks währen selten lange. Bald stottert die Maschinerie von neuem. Der Vater wird träge oder zittrig, der Blutdruck sinkt auf ein alarmierendes Niveau, sein Puls schlägt mal so, mal so. Wieder muss die Ehefrau seine Motorhaube anheben. Mit der Zeit entwickelt sie sich zu einer solchen Expertin, dass sie den Neurologen Ratschläge erteilen kann. Sie mögen zwar mehr über chemische Prozesse und Nomenklatur wissen, aber sie hat die praktische Erfahrung. Da steht sie, die Schirmmütze in den Nacken geschoben und Putzwolle in den Händen, nur auf eines bedacht: bestmögliche Fahreigenschaften.

Schau!

    Nach seinem täglichen Spaziergang durch den Garten streckt der Vater ihm eine halbierte Apfelsine entgegen. Der Handteller glänzt von Saft, in der anderen Hand funkelt das Küchenmesser. Seine Freude ist unverfälscht. Hier, nimm!, drängt die Hand. Die Aufforderung enthält ebenso viel Überraschung wie Stolz. Der Sohn denkt, sie soll bedeuten: Sieh, welche Schätze uns die Natur schenkt. Was will man mehr? Fruchtfleisch und Saft! Aber auch: Aus unserem Garten, fast ohne unser Zutun. Du bekommst sie von mir – eine halbe Sonne!
    Den Vater zieht es zum einfachen Leben. Papier, Stift und Stille. Brot mit Öl und Tomaten. Tisch und Stuhl in einem Zimmer. Aussicht auf Berge. Aussicht auf das Meer. Oder wie hier: ein halbierter Planet. Das Ideal: frei unter dem Himmel. Das Credo: Ich singe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher