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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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meine Freude.
    Im Gegensatz dazu stehen die schlingernden Jahre vom Gymnasiasten mit Tuberkulose während des Bürgerkriegs bis zum Vierkinderpatriarchen in einem Bungalow mit zwölf Haustelefonen und insgesamt neunzig Meter langen Fluren. Er bleibt selten mehr als ein paar Jahre an einem Wohnsitz. Neue Anstellungen, neue Abenteuer. Und lebt konsequent über seine Verhältnisse – nicht aus Leichtsinn oder Dummdreistigkeit, sondern weil er keinen Grund sieht, sich von Hindernissen hemmen zu lassen, die er als läppisch oder beleidigend empfindet. Das letzte Mal schuldenfrei ist er Mitte der sechziger Jahre, zwischen dem zweiten und dritten Kind, und er verschont seine Frau nicht einmal dann mit Gastspielen als Aushilfspersonal in einer nordschwedischen Poliklinik, als er schon die medizinische Fakultät einer neugegründeten Universität in seinem Heimatland aufbaut.
    Als der Sohn an diesem Frühlingstag die Apfelsinensafttropfen auf der Veranda sieht, denkt er, dass sie die Spuren im Leben des Vaters nachbilden könnten. Ständige Sprünge von einer Stelle zur nächsten, immer in dem Glauben, dass die Glückseligkeit einen Schritt vorausliegt. Könnte ein Biograph die einzelnen Tropfen verbinden und zeigen, dass er recht behielt? Immerhin erbaut der Vater eine Welt mit wenig mehr als Lust, Fleiß und Ehefrau. Er kehrt ja zu seinen Wurzeln zurück. Und wird eine Erinnerung hinterlassen so stark wie Holz, Schwerkraft, Nachmittagslicht. Doch jede Station auf dieser Reise lässt ihn auch zur Ader. Als er sich schließlich in der Nähe seines Geburtsdorfs niederlässt, bleibt ihm nicht mehr viel Kraft. Oder Zeit.
    Dennoch wird er ständig von Plänen angetrieben – eigenen und denen anderer. Wenn es nicht um die Grundstücke geht, die für die Kinder gesichert werden sollen, müssen Pflanzungen angelegt oder Bücher geschrieben werden. Dennoch bleibt das liebste Gesprächsthema für ihn die Frage, wie man die Voraussetzungen für das begehrteste Gut von allen begehrten Gütern schafft: Ruhe und Frieden. Mit einer solchen Aufgabe konfrontiert, kann der Vater sich niemals genug anstrengen. Seine Freude kennt keine Grenzen – und wird geteilt. Buchstäblich. Halbiert, aber gemeinsam bedeutet sie, dass keiner vor seinem Enthusiasmus sicher ist.
    »Schau!«

Die andere Hälfte

    Der Vater ist kein verschwiegener Mensch. Er vertraut sich gerne an und verfügt außerdem über eine gut ausgeprägte Fähigkeit, Menschen für seine Pläne und Interessen zu begeistern. Mal schürt er Erwartungen, mal verlässt er sich auf Mitgefühl. Aber im Grunde geht es um Begeisterung. Er handelt immer in der Überzeugung, dass man seine Kräfte einem gemeinsamen Projekt widmet. Keiner ist glücklicher über die Freude anderer als er. Und keiner mehr überrascht, wenn sich am Ende trotz allem herausstellt, dass der Aussichtsturm, der gebaut wurde, oder der schwedische Pass, der in der Schreibtischschublade liegt, tatsächlich ihm gehört.
    Später wird der Sohn darüber nachdenken, wodurch der Vater andere Menschen dazu bringt, über sich hinauszuwachsen, wenn sie ihm helfen. Und sich vorstellen, dass dies auch mit Verschwiegenheit zusammenhängt. Nicht in dem Sinne, dass er anderen absichtlich Informationen vorenthalten würde. Wie die meisten Menschen zieht er eine Grenze zwischen dem Privaten und dem Persönlichen – schon allein aus Taktgefühl. Gleichwohl gibt es da etwas in seiner Art, was zu Loyalität verlockt. Je länger der Sohn darüber nachsinnt, desto mehr ist er überzeugt, dass das vom Vater ausgelöste Wohlwollen auf Dingen beruht, die er vermeidet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses Unwissen umgibt ihn mit einem selbstverständlichen Glanz, eine unausgesprochene Dimension, die deshalb so attraktiv wirkt, weil sie nicht künstlich ist. Der Vater scheint von einem Nimbus umgeben zu sein, der sich berühren lässt, und von dem sich fremde Menschen bereitwillig anziehen lassen – nicht um sich in seinem Glanz zu sonnen, sondern um zu ihm beizutragen. Seine andere Hälfte besteht aus dem Vertrauen der Menschen zum Unausgesprochenen. Nicht zuletzt in ihnen selbst.

Ein Foto

    Eines Tages findet der Sohn zwischen den Seiten eines Lehrbuchs für Gymnasiasten ein Foto mit gezackten Rändern. Die Aufnahme ist nicht größer als eine Spielkarte. Einige der Zacken sind abgebrochen und das Bild ist in der Mitte geknickt worden, so dass von oben bis unten ein gelblich weißer Riss verläuft. Abgelichtet sind zwei Jungen, sechs
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