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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne
Autoren: Aris Fioretos
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Tempusunterschied Bedeutung zumessen würden. Vielleicht keinen.
    XXXIV. Denke dir den Haarwuchs an Armen und Beinen fort, denke dir die Satzmelodie und falsch plazierte Pronomen fort. Denke dir die Schwäche für Knoblauch, Tomatensauce und extrem süßes Backwerk fort. Ein ausländischer Vater ist trotzdem immer ein ausländischer Vater.
    XXXIII. Niemand riecht wie ein ausländischer Vater.
    XXXII. Taufnamen reichen einem ausländischen Vater nicht. Deshalb ersinnt er andere – »Kläffer«, »Berija«, »Dr. Lesebuch« ... Gelegentlich ist es nicht leicht zu entscheiden, ob es sich um Kose- oder Schimpfnamen handelt. Dann muss ein ausländischer Vater umformulieren. Aus »Berija« wird beispielsweise »Bert«.
    XXXI. Wenn ein ausländischer Vater ein Kind im Schlaf weinen hört, legt er sich zu ihm ins Bett und singt mit dem Gesicht zwischen dessen Schulter und Hals frei erfundene Lieder. Wenn das Kind erwacht, liegt ein ausländischer Vater oft noch da. Dies gilt auch, wenn ein ausländischer Vater ein ausländischer Großvater geworden ist.
    XXX. Ein ausländischer Vater beherrscht die lokale Nationalhymne nicht. Ein ausländischer Vater zögert lachend, wenn er die Nationalhymne seines eigenen Heimatlandes vortragen soll. Es kommt vor, dass ein ausländischer Vater einige der Zeilen aus der Luft greift. Es kommt auch vor, dass er wütend wird, wenn man anzweifelt, dass es sich um den Originaltext handelt. Dann hält ein ausländischer Vater auch schon mal den Telefonhörer hoch und fragt, ob er wirklich seinen Bruder, den früheren Royalisten, anrufen soll.
    XXIX. Für einen ausländischen Vater ist die Anpassungsfähigkeit seiner Kinder ein Quell des Jubels, aber auch von Flüchen. Jede Probe davon zeigt, dass er erfolgreich gewesen ist, jede Probe davon zeigt, dass er gescheitert ist.
    XXVIII. Einem ausländischen Vater fällt es schwer zu verstehen, dass die Auffassungen seiner Kinder das Heimatland betreffend von seinen eigenen abweichen können. Ein ausländischer Vater hegt den Verdacht, dass ein neues Land womöglich eine Bedrohung für das alte bedeutet. Ein ausländischer Vater fordert deshalb Beweise ihrer Loyalität. Ein ausländischer Vater erkennt nicht immer, dass solche Forderungen die entgegengesetzte Wirkung haben können. Wenn er es jedoch tut, weiß er nicht, was er machen soll. Dann empfindet er Trauer. Einem ausländischen Vater ist niemals bewusst, dass diese Trauer für seine Kinder zur schwerwiegendsten Forderung werden kann.

Ärmster

    Die Familie des Vaters ist voller teilweise komplizierter Verzweigungen. Außerdem werden sie gänzlich undurchschaubar, sobald man drei Generationen zurückgeht. Da gibt es väterlicherseits Männer, die ihre Familien in den Bergen der südlichen Landesteile verlassen und an der Küste neue gründen. Da gibt es die Androhung von Vergeltung und andere Männer, die eine Generation später aus dem Gefängnis entlassen werden und plötzlich mit Pistolen in den Händen vor Dorfhändlern stehen. Da findet man Verwandte mütterlicherseits, die dazwischengehen und es schaffen, die Verwandten väterlicherseits zumindest so weit miteinander zu versöhnen, dass keine Schüsse fallen. Da gibt es böse Blicke. Da findet man einen Cousin und eine Cousine, die Kinder der Vermittler sind, und für den Vater wie Geschwister werden. Da gibt es den Jungen, mit dem er von einer Klippe springt. Da findet man das Mädchen, das in ihm den Bruder sehen wird, den sie verlieren wird. Da gibt es die Mädchen, die sie bekommt und in deren Zimmern die Söhne des Vaters in ihrem ersten Sommer im Heimatland schlafen werden. Da findet man die schwarzen Kleider, die von der Mutter der Mädchen getragen werden, und ein Gesicht wie aus feinem, zähem Leder. Da gibt es die Ruhe in ihren Bewegungen und den Geruch von Minze. Da findet man den Rheumatismus, über den sie klagt, wenn sie die Treppenstufen zur Veranda hinaufsteigt.
    Da gibt es die Plastiktüten mit Zwiebeln und Weintrauben, die sie in der Küche abstellt. Da gibt es die Finger, die an dem Kreuz um ihren Hals nesteln, wenn sie auf die Veranda zurückkehrt und sagt, na schön, dann nimmt sie eben eine Tasse mit zwei Löffeln Zucker. Da gibt es die Hand, die sie über die Wachstuchdecke hinweg ausstreckt, und die Hand, die sie in ihre nimmt, wenn sie den kranken Vater streichelt. Da gibt es die Finger, über die sie streicht, langsam, aber sorgsam, und da gibt es ihren Blick so warm wie Sonnenrauch. Da gibt es eine Süße wie
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