Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
Vom Netzwerk:
die später zurückzukommen sein wird. Im Hinblick auf den Bereich der personellen Voraussetzungen sollen einige Beispiele verdeutlichen, was mit Überwindung der ethnisch monolithischen Identität und deren Ersetzung durch staatsbürgerliche Identität gemeint ist. Dies bedingt vorweg eine kurze Umschreibung des Aktionsfeldes der Institution, der ich vorstand. Die Ombudsstelle war mit der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton im Dezember 1995 in Paris formell als eine Institution des Staates Bosnien und Herzegowina geschaffen worden. In den ersten fünf Jahren sollte die Stelle durch jemanden versehen werden, der oder die nicht über die Staatsangehörigkeit von Bosnien oder eines benachbarten Staates verfügen durfte, aber dennoch im Namen des bosnischen Staates handelte. Aufgabe der Ombudsstelle war es, Beschwerden von Einzelpersonen zu beurteilen, die geltend machten, sie seien durch eine Behörde oder eine in amtlicher (staatlicher) Funktion handelnde Person in den ihnen zustehenden Rechten verletzt worden. Dabei konnte es sich um Behörden aller Stufen im komplizierten Aufbau des bosnischen Staatsgefüges handeln: von der Gemeindebehörde über Regionalbehörden bis zu den Behörden eines der beiden Teilstaaten »Föderation Bosnien und Herzegowina« und »Republika Srpska« oder schließlich Behörden des Gesamtstaates. Der Katalog der garantierten Rechte war der bosnischen Verfassung zu entnehmen, die ein Bestandteil des Dayton-Abkommens ist, sowie einer langen Liste von internationalen Menschenrechtsabkommen, die dem entsprechenden Anhang des Dayton-Abkommens beigefügt worden ist. Daß mehr als neunzig Prozent der zu uns gelangten Fälle Wohnungen und Häuser betrafen, welche die Beschwerdeführer zurückzuerhalten – oder umgekehrt zu behalten – versuchten, kann nach Jahren der »ethnischen Säuberungen« nicht verwundern.
    |30| Immer wieder waren wir mit Fällen der Untätigkeit von Verwaltungsbehörden konfrontiert. In den zahlreichen Gebieten, in welchen nach dem Krieg fast nur noch Menschen wohnten, die derselben ethnischen Gruppe angehörten, setzten sich Behörden in dieser Zeit begreiflicherweise ausschließlich oder weitgehend aus Mitgliedern derselben Gruppe zusammen. Dennoch konnte und mußte es vorkommen, daß sich Personen aus einer anderen ethnischen Gruppe an diese Behörden wandten, sei es, daß sie im betreffenden Gebiet hatten bleiben können, sei es, daß sie dahin zurückkehren wollten. In den ersten Monaten des Jahres 1996 wurden solche Eingaben häufig einfach nicht bearbeitet. Es handelte sich gleichsam um »Nichteingaben«, weil sie sozusagen von »Nichtmitbürgern« stammten, wenn man es monolithisch ethnisch betrachtete. Erstaunlich war insbesondere, mit welcher Selbstverständlichkeit Behördenmitglieder und Vertreter der öffentlichen Hand erläutern konnten, daß die Gleichbehandlung der verschiedenen Ethnien doch einfach unmöglich sei. Meistens begründeten sie ihre Einstellung mit Schilderungen, was ihrer eigenen ethnischen Gruppe in der betreffenden Gegend von der anderen Gruppe während des Krieges angetan worden sei, und damit, daß man unter diesen Umständen keinen Anspruch auf behördliche Gleichbehandlung stellen könne. Ob und wie stark der Rachegedanke dabei in den Vordergrund rückte, war von der Persönlichkeit abhängig und von deren kriegsbedingter Traumatisierung. Längst nicht alle Behördenmitglieder argumentierten in dieser Weise. Offensichtlich war aber ganz generell die staatliche Ordnungsstruktur im Laufe der Zeit so ausgeprägt ethnisch zugeordnet worden, daß die ethnische Zuordnung die Staatlichkeit schließlich vollständig verdrängt hatte. Diese Entwicklung konnte nicht von einem Tag auf den anderen rückgängig gemacht werden, denn sie hatte sich über Jahre hinweg in die Köpfe und Herzen eingegraben, und zwar durchaus nicht unverbindlich oder gar intellektuell-spielerisch, sondern in lebensbedrohlichen Situationen, in Hunger, Kälte und Angst, in Leid und Trauer.
    |31|
Staatsbürgerliche Identität
    Der anspruchsvollste Aspekt unserer Arbeit bestand deshalb darin, die Leute in diesem kriegsverwüsteten Land vorsichtig und langsam aus der Sackgasse der ethnisch monolithischen Identität wieder zurückzuführen zu einer staatsbürgerlichen Identität, welche darauf aufbaut, daß jede Bürgerin und jeder Bürger beziehungsweise Einwohner dieses Landes in gleicher Weise staatlich geschützt wird und berechtigt ist, an den Geschäften der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher