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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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öffentlichen Hand mitzuwirken und teilzuhaben. Wollte man diese Aufgabe nachhaltig wahrnehmen, so mußte man in der Lage sein, den Unterschied zwischen einer ethnischen und einer staatlichen Ordnungsstruktur aufzuzeigen und den Gesprächspartnerinnen und -partnern glaubwürdig darzulegen, warum auch für sie selbst nur eine Ordnungsstruktur auf Grundlage der öffentlichen Hand nachhaltige Sicherheit bot.
    Unsere Gesprächspartner waren zunächst die Behörden, gegen welche Beschwerden eingereicht worden waren, sofern wir mit ihnen überhaupt ins Gespräch kamen, was sich anfänglich zum Teil als recht schwierig erwies. Gesprächspartner waren aber auch die Beschwerdeführer selbst, welche vor allem in den ersten Monaten oder sogar in den ersten Jahren nach Kriegsende ihrerseits oft noch rein ethnisch dachten. Häufig stand die Formulierung im Raum, »mein Menschenrecht als bosnischer Kroate«, »mein Menschenrecht als bosnischer Serbe« sei verletzt worden oder »mein Menschenrecht als Bosniake«, also als Bosnier muslimischer Herkunft. Unermüdlich erklärten wir den Personen, die bei uns Beschwerden einreichten, Menschenrechte würden einem nur aufgrund dessen zustehen, daß man als Mensch geboren worden sei, und es gebe gar keine Menschenrechte, die einem aufgrund irgendeines besonderen Merkmals zustehen würden, sei dies nun die ethnische Herkunft, Rasse, Geschlecht, Familienzugehörigkeit, Religion oder was der besonderen Merkmale sonst noch vorstellbar wären.
    In der ersten Zeit nach Ende des Krieges wäre staatsbürgerlicher |32| Unterricht sehr wichtig gewesen, dies weniger in der Form von Unterrichtsstunden als in der Form von öffentlichen Diskussionen, persönlichen Gesprächen und vor allem in einer seitens der Internationalen Gemeinschaft einhelligen und sehr klaren Sprache gegenüber den bosnischen Behörden auf allen politischen Ebenen. Auch dies hätte nicht von einem Tag auf den anderen eine Normalisierung der Verhältnisse gebracht. Aber immerhin wäre genau jenes Problem an der Wurzel gepackt worden, das die Grundlage bildete für die nur sehr langsam abflauende militärische Gewaltbereitschaft, für Desorganisation, Chaos und Korruption, und damit indirekt auch für das noch sehr lange dauernde völlige Darniederliegen der Wirtschaft. Durch ein solches Vorgehen wäre der Normalisierungsprozeß immerhin stark beschleunigt worden. Die militärische Befriedung Bosniens war ungleich viel teurer als die gesamte nichtmilitärische Aktivität der Internationalen Gemeinschaft. Dies war unumgänglich, liegt im unterschiedlichen Aufwand der beiden Bereiche begründet, und es steht außer Zweifel, daß die militärische Präsenz in dem Umfang, wie sie stattfand, zur Befriedung des Landes absolut notwendig war. Um so mehr jedoch, als »staatsbürgerlicher Unterricht« im Vergleich zu anderen Aktivitäten äußerst preiswert ist, hätte er flächendeckend stattfinden können. Leider war dies nicht der Fall.
    Erstaunliche Beobachtungen
    Neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Institution versuchten zahlreiche Internationale, staatsbürgerliche Identität als gedankliche Alternative zur monolithischen ethnischen Identität zu verbreiten. Trotzdem kam die Alternative nicht zum Tragen, sie griff nicht einmal bei allen Leuten, bei denen sie hätte greifen können und auch hätte greifen müssen, also bei jenen, welche die ethnische Brille bereits abgelegt hatten oder dabei waren, sie abzulegen. In der Aussage »So nicht!« war die Internationale Gemeinschaft einhellig. |33| Aber die Frage »Was dann?« wurde nicht unisono mit der Perspektive staatsbürgerlicher Identität beantwortet. Noch viel weniger war bei den Internationalen der Nachdruck und die einhellig nach außen sichtbare Überzeugung vorhanden, die unabdingbar gewesen wäre, um der gedanklichen Alternative staatsbürgerlicher Identität zum Durchbruch zu verhelfen. Zwar arbeiteten viele Internationale mit bewundernswertem Einsatz und klaren inhaltlichen Konzepten. Es gab aber auch Internationale, die – wie mir schien – ziemlich konzeptlos agierten, und ich fragte mich anfänglich oft, was um alles in der Welt einen dazu bringen konnte, die Strapazen einer Mission in einem so schwierigen Land auf sich zu nehmen, wenn man gar nicht wußte, was man den Leuten gedanklich anzubieten hatte. Daß diese Frage – so wie ich sie anfangs formuliert hatte – falsch gestellt war, begriff ich gegen Ende des ersten Jahres meiner Arbeit in
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