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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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|9| Vorwort
    Als am Nachmittag des 11. September 2001 das Radio die Nachricht von den Terroranschlägen in New York und Washington verbreitete, bestätigt später durch die grauenvollen Bilder des einstürzenden World Trade Centers, hatte ich eben die letzten Sätze eines Referates zum Thema »Deregulierung der Menschenrechte« geschrieben. Die Vorarbeiten zum vorliegenden Buch waren damals weitgehend abgeschlossen, und ich hatte einige Bemerkungen zu den transatlantischen Unterschieden im Verständnis von Staat und Nation aus dem Buchmanuskript ins Referat übernommen. Sogleich realisierte ich, daß die Darstellung der transatlantischen Differenzen in der gegebenen Aktualität so nicht präsentiert werden konnte, es wäre unvereinbar gewesen mit der Pietät den Opfern gegenüber. Ich schrieb den Text des Referates um und versuchte die rationale Analyse in eine Form zu bringen, die diese Pietät einschloß. Bald wurde mir klar, warum die Kommentatorinnen und Kommentatoren in den Medien jedenfalls kurzfristig recht hatten, wenn sie im Zusammenhang mit dem 11. September von einer Zeitenwende sprachen: Vieles ließ sich nicht mehr so formulieren wie bisher. Die Frage des Glaubens war so stark wie nie zuvor in den Vordergrund gerückt.
    Zunächst hatte auch in mir das Bild des zusammenbrechenden Turmes im World Trade Center das ältere Bild der Turmruine der Zeitung »Oslobođenje« in Sarajevo verdrängt. Nach einigen Tagen begannen besonnene Kräfte öffentlich klarzustellen, daß es sich hier nicht um eine Konfrontation zwischen der islamischen und der christlichen Welt handelte. Hatte ich die Fragestellung, ob Islam und Moderne vereinbar seien, nicht bereits während Jahren mitdiskutiert, natürlich in bejahendem Sinne? Begann sich nun in mir die Zeit rückwärts |10| zu drehen? Als ich mich wieder der Arbeit am Buchmanuskript zuwandte, kam es mir zunächst so vor, als würde ich plötzlich Geschichte schreiben, nicht wie vorher Bericht erstatten über Erlebtes, das eine gewisse Aktualität hatte. Und doch war da ein innerer Zusammenhang. Schon nach einigen Wochen kamen in der medienöffentlichen Verarbeitung des Schreckens zwar nicht die gleichen konkreten Fragestellungen auf wie jene, die ich bearbeitete, aber vor allem die politische Analyse des Geschehenen führte je länger desto mehr auf ähnliche Denkmuster zurück. Immer deutlicher zeigte sich, daß in den Vereinigten Staaten und in Europa auf dieselben Dinge nicht genau gleich reagiert wurde. Und immer mehr Leute begannen Fragen zu stellen zu den transatlantischen Unterschieden. Sie betrafen auch jene Bereiche, zu denen bereits im Nachkriegs-Bosnien Wahrnehmungen gemacht werden konnten. Es wäre zu wünschen gewesen, diese Wahrnehmungen, die im folgenden beschrieben werden, hätten kein so schreckliches Umfeld erhalten, wie dies im September 2001 tatsächlich der Fall war. Es wäre zu wünschen gewesen, das Thema dieses Buches wäre nicht auf diese Weise plötzlich so aktuell geworden.
    Im Mai 2002
    Gret Haller

|11| 1
Bosnien
    Anfang Dezember 1995 läutete in meinem Büro das Telefon. Ich wurde gefragt, ob ich als Ombudsfrau für Menschenrechte nach Sarajevo gehen wolle. Das Friedensabkommen von Dayton sei zwar noch nicht unterzeichnet, es sehe aber eine solche Funktion vor, und daran werde sich bis zur Unterzeichnung nichts mehr ändern. In einer ersten spontanen Reaktion machte ich klar, daß ich diese Funktion nicht übernehmen wollte. Ich war damals Botschafterin beim Europarat, hatte in Straßburg ein interessantes Leben, und ich wußte nicht, was mich hätte bewegen sollen, dieses gegen eine Tätigkeit in einem Land einzutauschen, welches kaum den schrecklichsten Kriegsgreueln entkommen war. Als spätabends am selben Tag die Faxmaschine die Rechtsgrundlage für das neugeschaffene Amt ausspuckte, warf ich dennoch einen Blick darauf. Zunächst erschien mir die Sache als trockene Rechtsmaterie. Dann aber realisierte ich, daß hier Neuland betreten wurde: Die Europäische Menschenrechtskonvention sollte in Bosnien und Herzegowina direkt angewendet werden, ohne daß sie aber von diesem Staat völkerrechtlich ratifiziert werden konnte, weil dieses Land noch nicht Mitglied des Europarates war. Einzelpersonen in Bosnien würden sich also auf diese Konvention berufen und Beschwerden einreichen können, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würde diese Fälle jedoch nicht beurteilen dürfen, wiewohl er sonst für ganz Europa zuständig war. Darin
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