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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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einzieht, dann wird der Baum rot oder gelb. Dasselbe geschieht mit allen gesellschaftlichen Vorgängen: Sie tragen die Farben der Herkunft jener Personen, die an ihnen beteiligt sind. Menschen, die unter dieser Sicht leiden, suchen ständig nach Bildern, die auch Mischtöne aufweisen, sie wollen die Brille so rasch als möglich loswerden. |27| Andere fühlen sich bedroht, wenn die Dinge nicht mehr klar zugewiesen werden können, sie klammern sich an die Brille, aus was für Gründen auch immer. Es gab in Bosnien nach dem Krieg beide Phänomene. Es gab auch viele Menschen, die kaum mehr Energie hatten, sich um Fragen wie die ihnen aufgesetzte Brille zu kümmern, denn die Erschöpfung nach den langen Kriegsjahren war zu groß und der nach wie vor schwierige tägliche Überlebenskampf war ohnehin schon fast nicht zu bewältigen.
    Das Bild mit der Brille wird hier verwendet, um die ethnisch monolithische Identität zu illustrieren. Den Farben kommt keine politische Bedeutung zu, und sie werden bewußt nicht zugeordnet. Daß ich während meiner Arbeit in Bosnien konsequent darauf verzichtet habe, eine Schuldabwägung zwischen den Ethnien vorzunehmen, wurde mir von Bosnierinnen und Bosniern gelegentlich zum Vorwurf gemacht, und zwar von jenen, die überzeugt waren, ihre eigene Ethnie habe hauptsächlich zu den Opfern und nicht zu den Tätern gehört. Im Rahmen des beschriebenen Verarbeitungsprozesses habe ich Verständnis für diese Haltung. Die kollektive Schuldfrage – nicht die individuelle, die auch eine strafrechtliche ist – spielt in diesem Prozeß nun einmal eine Rolle. Dennoch habe ich mich auf die Schuldabwägung zwischen den Ethnien ganz bewußt nie eingelassen, denn dies hätte meine Arbeit verunmöglicht. Demgegenüber schien mir der gelegentlich an mich gerichtete Vorwurf wegen mangelnder Stellungnahme in der kollektiven Frage der Schuld weniger hinderlich. Und noch eine zweite Klarstellung: Wenn es auf der einen Seite richtig war, Verständnis aufzubringen für Bosnierinnen und Bosnier, die aus persönlichen Gründen zunächst nicht in der Lage waren, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, und die deshalb während langer Zeit auf einer monolithischen ethnischen Identität beharrten, so war auf der anderen Seite ein absolut kompromißloses Vorgehen nötig: Gegenüber jenen nämlich, welche die ethnisch ausgerichtete Identität in allen Volksgruppen der bosnischen Bevölkerung geschürt hatten, diese Identität ausnützten und sie aufrechterhalten wollten, weil sie |28| darauf politische Machtpositionen aufgebaut hatten, meist verbunden mit mehr oder weniger mafiösen wirtschaftlichen Vorteilen. Ihnen gegenüber war Verständnis die falsche Strategie. Was also war zu unternehmen? Es hätte wenig Sinn gemacht, den Bosnierinnen und Bosniern zu erklären, daß sie mit dieser monolithischen Identität nicht weiterkommen würden. Übrigens: Viele wußten oder spürten dies ohnehin. Vordringlich war die richtige Alternative.
    Die Alternative
    Eigentlich lag die Alternative zur ethnisch monolithischen Identität nach Kriegsende auf der Hand: In Bosnien war die staatliche Ordnung verschwunden, viele der früher staatlichen Funktionen waren entweder nicht mehr vorhanden, oder sie waren ethnisch zugeordnet. Voraussetzung für eine Normalisierung der Verhältnisse war deshalb die Ersetzung dieser Identität durch eine andere, und diese konnte nur eine staatsbürgerliche sein. Es ging dabei um zwei Bereiche, einen institutionellen und einen personellen: Einerseits mußten die staatlichen Institutionen wieder aufgebaut werden, andererseits mußten Personen, die in diesen Institutionen, also für »das Öffentliche«, tätig wurden, wieder oder neu verstehen lernen, was eine solche Tätigkeit bedeutete. »Neu« war dies insofern, als im alten jugoslawischen Staatswesen die Verwaltung ganz unter dem Primat der Partei gestanden hatte. »Wieder« ist eine teilweise ebenfalls zutreffende Umschreibung, denn das jugoslawische Staatswesen war nicht ganz vergleichbar gewesen mit anderen kommunistischen Staaten: Für die Überwindung der ethnisch monolithischen Sichtweise gab es jedenfalls im früheren Staatswesen durchaus Anhaltspunkte, nicht aber für die Überwindung der Parteiabhängigkeit.
    |29|
Verschiedene Beschwerdefälle
    Der erstgenannte Bereich, der Aufbau staatlicher Funktionen im institutionellen Sinne, bedarf hier keiner näheren Erläuterung, wiewohl er sich als äußerst schwierig erwies, aus Gründen, auf
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