Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
Vom Netzwerk:
plötzlich bewaffneten, einen bedrohten oder mit Waffengewalt aus dem eigenen Haus vertrieben. Andere hatten mit eigenen Augen ansehen müssen, wie plötzlich zu Feinden gewordene Nachbarn nicht einmal vor kaltblütigen Morden zurückschreckten, es waren sogar Angehörige vor den Augen von Eltern, Geschwistern oder Kindern umgebracht worden. Wer solches erlebt hat, ist traumatisiert, ganz zu schweigen von gefolterten Menschen und vergewaltigten Frauen. Einer Person mit derartigen Erlebnissen dürfte es auch mit gutem Willen und unter Aufbietung aller Vernunftgründe jedenfalls während einiger Zeit nicht mehr möglich sein, in der Gewißheit zu leben, daß die ethnische Zugehörigkeit für das Verhalten und die Grundwerte eines Menschen keine Rolle spiele oder spielen dürfe. Aber auch jene, die von derart ungeheuerlichen Erlebnissen verschont geblieben waren, hatten kaum die Möglichkeit, sich dem Denken in ethnischen |23| Kategorien zu entziehen. Nicht nur wußten alle um die entsetzlichen Vorkommnisse, welche sie betroffen machten, ob ihnen die Opfer nun persönlich bekannt waren oder nicht. Schon allein aus Selbstschutz waren während des Krieges viele gezwungen gewesen, sich Gruppen anzuschließen, in denen sie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit wenigstens nicht bedroht waren, denn es gab nicht viele Orte, in welchen das multiethnische Zusammenleben während der ganzen Zeit des Krieges möglich blieb. Der nicht serbisch besetzte Teil von Sarajevo war ein solcher Ort.
    Es gab auch Orte, in denen »ethnische Säuberungen« stattgefunden hatten, in denen aber Angehörige einer ethnischen Minderheitsgruppe überlebten, nachdem sie sich grundsätzlich entschieden hatten, sich dem ethnischen Druck nicht zu beugen und lieber den Tod in Kauf zu nehmen als wegzuziehen. All jenen, die eine solche Entscheidung getroffen hatten, muß das Denken in nichtethnischen Kategorien ein wichtiges Anliegen gewesen sein, sonst hätten sie nicht so entschieden. Überlebten sie den Krieg, so hatten aber auch sie kaum die Möglichkeit, sofort und unbesehen zu einer Sicht zurückzufinden, in welcher das Ethnische ausgeblendet bzw. auf das vor dem Krieg übliche Maß reduziert war: Eine Lebenssituation in ständiger ethnisch bedingter Bedrohung hinterläßt Spuren, die desto tiefer sind, je länger die Situation gedauert hat. Und außerdem waren die Gefahren bei der formellen Beendigung des Krieges längst nicht gebannt. Noch Jahre nach Kriegsende konnten und können Angehörige von ethnischen Minderheitsgruppen nicht in alle Dörfer zurückkehren, auch wenn inzwischen Fortschritte feststellbar sind.
    Das ethnisch verstandene Recht
    Wie sich eine solche »Ethnisierung« im Rechtsdenken auswirkt, hat Edin Šarčević in einer kleinen Broschüre über die Schlußphase der bosnischen Verfassungsgebung dargestellt: Alle Handlungen der Menschen werden nicht mehr als Handlungen |24| betrachtet, die der Betreffende als Mensch unternommen hat, sondern es wird vorausgesetzt, daß er die Handlung ausschließlich als Zugehöriger einer Ethnie unternommen habe. Dies kann so weit gehen, daß gewöhnliche Kleinkriminelle nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, weil ihre Verhaftung als Angriff auf ihre ethnische Gruppe gelten würde. 5 Sogar das Kriterium der gewöhnlichen Kleinkriminalität ist in einer solchen Situation dem Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit untergeordnet worden: Ein Angehöriger der eigenen Ethnie kann gar nicht kriminell sein, genauso wie der Angehörige der anderen Ethnie ohnehin kriminell ist. Der ethnisch definierte Mensch hat somit gar keine Autonomie als Mensch mehr, er wird völlig auf seine ethnische Zugehörigkeit reduziert. Er hat nicht einmal die Autonomie, straffällig zu werden und danach strafrechtlich neutral beurteilt zu werden. So entsteht die Grundlage der entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen, die der Balkan erlebt hat: Der ethnisch definierte Mensch hat auch keine Würde mehr als Mensch, er hat lediglich noch eine »Würde« als Angehöriger einer Ethnie.
    Zweifellos kann daran gearbeitet werden, das Denken in ethnischen Kategorien zu überwinden und zu einer Art Normalität zurückzukehren. Viele haben es versucht, und etliche haben es auch geschafft: Sie haben nicht vergessen, aber sie haben vergeben können. Andere können dies nicht oder lange nicht. Niemand hat ein Recht, ihnen deshalb Vorwürfe zu machen. Ich war bei der Veranstaltung persönlich nicht anwesend, die auf Einladung einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher