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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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Artilleriefeuer. Um es gleich vorwegzunehmen: Sarajevo hat seine Symbolik über den Krieg hinwegretten können, dank eines beispiellosen Einsatzes all derer, die sich weigerten, diese Stadt zu verlassen, oder sie nicht mehr verlassen konnten, auch wenn sie dies gerne getan hätten, und dann aus der Situation das Beste zu machen versuchten. Als »friedlich« kann das Zusammenleben nach dem Krieg wohl kaum bezeichnet werden; die Verhältnisse waren äußerst schwierig. Aber der Kern der Sache ist nach wie vor lebendig und hat sich nach dem Krieg – wenn auch langsam – wieder auszubreiten begonnen. Der Historiker Eric J. Hobsbawm bezeichnet das vergangene Jahrhundert als »das kurze 20. Jahrhundert«, welches von 1914 bis 1991 gedauert und sowohl in Sarajevo begonnen wie auch in Sarajevo geendet habe, von der bereits erwähnten Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn, die binnen weniger Wochen zum Ausbruch des ersten Weltkrieges führte, bis zur Belagerung der Stadt am Ende desselben Jahrhunderts, wodurch diese wieder zum Mittelpunkt des internationalen Interesses wurde. 2 Die Belagerung galt nicht nur der Stadt und ihrer Bevölkerung, angegriffen wurde auch die Symbolik des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Völker, Kulturen und Religionen.
    Wie unbekümmert dieses Zusammenleben vor dem Krieg in Sarajevo gewesen war, erfuhr ich nach und nach aus Erzählungen meiner bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Die katholischen, orthodoxen und islamischen Feiertage stimmen |17| nicht überein, und manche fanden sich bei einer Familie oder Sippe der anderen Religion ein, um den Festtag gemeinsam zu begehen. Daß diese schöne Tradition für den einzelnen recht viele schul- oder arbeitsfreie Tage zur Folge hatte, wurde lediglich als Nebenwirkung empfunden. Interreligiöse Heiraten waren in vielen Familien völlig selbstverständlich, mehr noch, diese Interreligiosität war an sich gar kein Diskussionsthema, jedenfalls in den Städten, nicht nur in Sarajevo, sondern auch in Tuzla, Banja Luka, Travnik und anderswo. Kulturelle Durchmischung findet in Städten seit jeher günstigere Voraussetzungen als auf dem Lande. In ländlicheren Verhältnissen hat man über weite Strecken dieselbe interreligiöse Offenheit getroffen, doch gab es auch Dörfer mit einer ethnisch klar definierten Bevölkerungsmehrheit. Hier wurden jedoch die anderen Gruppen toleriert und über die religiösen Grenzen hinweg geheiratet. In gewissen Gegenden lagen Dörfer mit verschiedenen Mehrheiten bunt durcheinander, was den interethnischen Austausch ebenfalls erleichterte. Diese Durchmischung wurde einem schmerzlich bewußt, wenn man über Bosnien nach dem Krieg mit dem Flugzeug unterwegs war: Da konnte man wie in einem Flickenteppich völlig intakte Dörfer sehen und unmittelbar daneben solche, in denen alle Häuser bis auf die Grundmauern ausradiert waren, Zeichen und Resultat der »ethnischen Säuberung«, wenn dieses unsägliche Wort überhaupt Verwendung finden soll. In den Städten hingegen waren oft gar keine ethnisch zugeordneten Quartiere oder Straßenzüge auszumachen, hier fand die Durchmischung auch sehr kleinräumig statt. Es muß davon ausgegangen werden, daß das unkomplizierte interethnische Zusammenleben ein eher städtisches Phänomen war und daß es in Bosnien deshalb erst mit dem Aufkommen städtischer Lebensweisen für einen größeren Anteil der Bevölkerung möglich wurde. Dieses war auch durch die Industrialisierung bedingt, die in breiterem Rahmen erst ab 1945 stattfand.
    Ethnisch begründete Wanderungsbewegungen hat es auf dem Balkan immer gegeben. Ethnisch begründete, systematische Vertreibungen setzten erst mit dem 20. Jahrhundert ein, |18| erstmals in den Balkankriegen 1912/13. Ein erster jugoslawischer Vielvölkerstaat bestand bereits nach dem ersten Weltkrieg, nämlich das »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen«. Im Rahmen dieses Staates wurde versucht, eine gesamtjugoslawische Identität zu fördern, wobei die gemeinschaftliche Sprache »Serbokroatisch« geschaffen wurde. Im zweiten Weltkrieg zerfiel dieser Staat, und es folgte die nächste Phase ethnisch deklarierter, brutalster Grausamkeiten. Im Jugoslawien Titos wurde nach dem zweiten Weltkrieg nochmals versucht, den »Jugoslawismus« aufzuwerten. Dabei wurde die ethnische Zugehörigkeit und die Religion der Bewohner des Landes in den Hintergrund gedrängt. Dies geschah einerseits durch eine in Teilrepubliken organisierte
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