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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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konnten Chancen liegen, aber auch Gefahren: Vielleicht wäre es gut, hier mitzuwirken, denn mit der europäischen Menschenrechtskultur war ich seit Jahren vertraut. So meine zweite spontane Reaktion, die schon am nächsten Morgen über die erste gesiegt hatte. Den Ausschlag für meine Zusage gaben aber schließlich die Menschen in Bosnien und die |12| entsetzlichen Dinge, die sie erlebt hatten. Ob ich bei jener abendlichen Lektüre eines Annexes des Friedensabkommens von Dayton bereits geahnt hatte, daß ich in Bosnien schon bald mit vielfältigen kulturellen Unterschieden zwischen Europa und den Vereinigten Staaten konfrontiert sein würde? Wohl kaum. Rückblickend aber wurde mir klar, daß mir die zweite meiner damaligen spontanen Reaktionen einen bisher unbekannten Blickwinkel eröffnete, aus welchem ich in den folgenden Jahren durchaus widerwillig Beobachtungen anzustellen gezwungen war, die mich zunächst erstaunten, später ärgerten und schließlich veranlaßten, dieses Buch zu schreiben.
    Noch vor Weihnachten ernannte mich die damals ungarische Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für mein neues Amt, welches mit der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton im Dezember 1995 in Paris formell geschaffen worden war. Nebst dem Aufbau dieser Institution ging es in den folgenden Monaten auch darum, sich mit der Situation im Lande vertraut zu machen. Soweit sie medienwirksam geworden waren, hatten uns die Bilder der Kriegsgreuel aus Bosnien auch in Westeuropa erreicht. Aber welche Geschichte stand dahinter, welche Ausgangssituation hatte zu den Entsetzlichkeiten geführt? Und wo mußte man ansetzen, um den Ursachen zu begegnen? Wie reagierte die Internationale Gemeinschaft? Einerseits war ich Teil dieser Internationalen Gemeinschaft. Andererseits stand ich auch außerhalb, denn die Institution, welcher ich vorstand, war formell eine Institution des Staates »Bosnien und Herzegowina« 1* . Sie war nur insofern international , als der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin in den ersten fünf Jahren nicht die Staatsangehörigkeit Bosniens oder eines der benachbarten Länder haben durfte.
    |13| Schon zu Beginn waren die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institution bosnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, assistiert zunächst durch internationale Juristinnen und Juristen, welche das Fachwissen in der Behandlung von Beschwerden gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention einbrachten, denn dieses war in Bosnien nicht Gegenstand der juristischen Ausbildung gewesen oder wenn schon, dann eher im Sinne eines negativen Beispiels von westlichem Imperialismus. Gegen Ende der ersten Hälfte meiner fünfjährigen Amtszeit arbeiteten die bosnischen Juristinnen und Juristen schon recht selbständig, so daß die Präsenz der Internationalen zurückging. Von Anfang an beurteilte ich die Geschehnisse deshalb auch aus der bosnischen Perspektive, was nicht heißt, daß die bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meine Beurteilung vorbehaltlos geteilt hätten. Dennoch war es genau die bosnische Sicht, die mir zeigte, daß es transatlantische Differenzen in weit höherem Ausmaß gab, als ich zuvor angenommen hatte. Sie erstrecken sich vom Rechts- über das Staats- und Politikverständnis letztlich sogar bis zum Verständnis des Demokratiebegriffes.
    Umfassend thematisiert worden sind transatlantische Unterschiede vor allem in den Bereichen Ökonomie sowie Sicherheitspolitik, gelegentlich auch im Bereich der Kultur, weniger jedoch im Bereich der Grundwerte, soweit sie nicht direkt die Frage nach mehr oder weniger Sozialstaat betreffen. Dies ist kein Zufall: In der Ökonomie, in der Kultur sowie in der Sicherheitspolitik bestehen unmittelbare Reibungsflächen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Im Rechts-, Staats- und Politikverständnis hingegen gibt es solche Reibungsflächen nur mittelbar; man nimmt sie normalerweise erst dann wahr, wenn man in der individuellen Erlebnissituation damit konfrontiert ist. Die Aktivität der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien bildete in dieser Hinsicht eine Ausnahme: Einerseits war sie stark US-dominiert, und andererseits ging es darum, trotz dieser Dominanz in Bosnien einen europäischen Staat aufzubauen, so daß transatlantische Differenzen im Rechts-, Staats- und Politikverständnis bei längerer |14| Beobachtung im Maßstab eins zu eins wahrgenommen werden konnten. Da ich meine Aufgabe über mehrere Jahre ausübte,
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