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Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität

Titel: Die Grenzen der Solidarität - Haller, G: Grenzen der Solidarität
Autoren: Gret Haller
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konkreten Tätigkeit, denn eine derartige Aufgabe darf man ohnehin nur übernehmen, wenn man von vornherein akzeptiert hat, daß man größtenteils fremdbestimmt agieren wird, weil man nur ein kleines Rädchen in einer immensen Maschinerie darstellt. Ursache war auch nicht das bosnisch-nationale Umfeld, auf das ich gut vorbereitet war und welches normalisieren zu helfen das Kernstück meiner Arbeit ausmachte. Vielmehr war es das internationale Umfeld in Bosnien, das mich plötzlich als Person zu betreffen begann, ich fühlte etwas in Frage gestellt, was mich zutiefst prägte und was ich nicht preiszugeben bereit war. Rückblickend habe ich erkannt, daß ich das internationale Umfeld in Bosnien als durchaus sektiererisch erlebt hatte: Die Bibel hieß »Friedensabkommen von Dayton«, Jerusalem lag in Washington D. C., und als |239| Sektenprediger wirkten vor allem jene gläubigen Amerikanerinnen und Amerikaner, die nicht – zum Beispiel als Diplomaten – gelernt hatten, daß die Welt durch den reinen Glauben nicht vollumfänglich zu verstehen ist, insbesondere nicht durch den reinen Glauben an die eigene Nation. Wahrscheinlich hat der Vergleich mit der Sekte in meiner linken Hirnhälfte in dem Moment Konturen angenommen, als in der rechten der Begriff »Deprogrammierung« aus den Nebeln aufstieg. Dieser Begriff bezeichnet die Therapie, mittels welcher Personen nach Sektenzugehörigkeit wieder zu einem normalen Leben befähigt werden.
    Deprogrammiert kam ich mir vor, als ich beim Schreiben dieses Buches plötzlich begriff, was ich nicht preisgeben will: Es ist die Freiheit des rationalen Denkens welches sich jenseits von Glaubens- und Bekenntniskategorien in die politische Diskussion einbringt. Diese Erkenntnis hat mir schließlich auch die Methode bewußt werden lassen, mit welcher – insoweit eine solche stattfindet – die ideengeschichtliche US-Amerikanisierung Europas funktioniert: Die Methode hat an sich etwas Sektiererisches, und dieses zeigt sich darin, daß nicht darüber geredet werden darf: Wer in Europa transatlantische Differenzen im ideengeschichtlichen Bereich anspricht, wird umgehend »amerikanisiert«, das heißt von der »Welt der Vernunft« in die »Welt des Glaubens« versetzt, wo jene andere Moral herrscht, die nicht mehr verhandelt werden kann. Warum ist die Thematisierung der transatlantischen Unterschiede im wirtschaftlichen Bereich viel weniger tabuisiert oder sogar erwünscht? Könnte es daran liegen, daß es eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Ultra-Liberalen und strammen Marxisten ist, Politik tendenziell auf das Ökonomische zu reduzieren?
    Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde vielerorts darüber gerätselt, ob – und wenn ja, warum – die US-amerikanische Außenpolitik für die islamische Welt etwas Beleidigendes haben könnte. In diesen Diskussionen standen in der Regel drei Dimensionen im Vordergrund, die religiöse, jene von Konsum und Lebensstil sowie die weltwirtschaftliche. |240| Was Europa anbelangt, sollte in diese Diskussion auch die ideengeschichtliche Dimension einbezogen werden, welche über die drei bereits genannten Dimensionen hinaus auch die staatspolitische Ebene betrifft: Nicht nur für Angehörige anderer Kulturkreise, sondern auch für staatspolitisch überzeugte Bewohnerinnen und Bewohner europäischer Staaten und für staatspolitisch überzeugte Europäerinnen und Europäer wirkt die Selbstverständlichkeit beleidigend, mit welcher Regierungsvertreter und regierungsunabhängige Akteure der US-amerikanischen Außenpolitik davon ausgehen, daß ihr Staats-, Nations- und Religionsverständnis auf dem alten Kontinent Einzug halten werde. Dies löst zunächst Aggressionen aus, dann aber auch Hilflosigkeit. Beides verschwindet jedoch wieder, sobald man versteht, daß und warum sich die Vereinigten Staaten als Nation – und nicht etwa die einzelnen US-Amerikanerinnen und Amerikaner – aufgrund ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung gar nicht anders verhalten können. Im Moment dieser Erkenntnis weicht sowohl die Aggression als auch die Hilflosigkeit dem einfachen Wunsch, Europa möge in der Umbruchsituation, die das Ende des Kalten Krieges mit sich gebracht hat, die richtigen Antworten finden.
    Europäische Identität ist immer in Umbruchsituationen entstanden. Dieser Kontinent hat nie versucht, geschichtslos zu werden und unter Verdrängung alles Bisherigen radikal neu zu beginnen. Gerade in Umbruchsituationen hat es Europa schon einige Male
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