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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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bequem hätten ausruhen können, ohne mit den Ellbogen aneinander zu stoßen.
    Er gab Einladungen und wurde eingeladen. Überall. Beim Bischof wie beim Präfekten. Er war eine Persönlichkeit geworden.
    Ich habe noch nicht von Destinats Mutter erzählt. Sie war etwas anderes: Sie stammte aus der besten Gesellschaft, auch vom Lande zwar, aber nicht aus den Kreisen, die es bearbeiten, sondern jener, die es besitzen. Als Mitgift hatte sie ihrem Gatten mehr als die Hälfte dessen eingebracht, was er besaß, und obendrein ein paar gute Umgangsformen. Dann hat sie sich zurückgezogen, zu ihren Büchern und feinen Handarbeiten. Sie hatte das Recht, einen Vornamen für ihren Sohn zu wählen: Sie entschied sich für Ange. Der Alte fügte Pierre hinzu. Er fand, dass es Ange an Kraft und Männlichkeit fehlte. Danach sah sie ihren Sohn so gut wie nie mehr. Zwischen den englischen Kindermädchen der ersten Jahre und dem Internat im Jesuitenkolleg verging die Zeit schneller als ein Wimpernschlag. Die Mutter übergab einen Heulpeter mit rosiger Haut und verquollenen Augen, und eines Tages stand vor ihr ein etwas steifer junger Mann, auf dessen Kinn zwischen zwei Pickeln drei Haare sprossen und der sie von oben herab musterte, ein richtiger kleiner Herr, durchdrungen von Latein und Griechisch, von seiner eigenen Wichtigkeit und eitlen Träumen. Sie starb so zurückgezogen, wie sie gelebt hatte. Nur wenige bemerkten etwas davon. Der Sohn weilte wegen seines Jurastudiums in Paris; er kam zur Beerdigung nach Hause, noch mehr als vorher ein kleiner, feiner Herr, voller Hauptstadtflair und gediegener Konversation, mit einer Reitgerte aus hellem Holz, einem makellosen Kragen und einem á la Jaubert pomadisierten Schnurrbärtchen über den Lippen: der letzte Schrei. Der Alte bestellte beim Tischler den schönsten Sarg, und so konnte dieser Handwerker einmal in seinem Leben Palisander und Mahagoni verarbeiten und goldene Schrauben hineindrehen. Echtes Gold. Dann ließ er eine Gruft bauen, auf der eine Bronzestatue ihre Hände gen Himmel reckt, während eine andere kniend still vor sich hin weint: Das will nicht viel bedeuten, aber es macht den allerschönsten Eindruck.
    Nach der Trauerzeit änderte der Alte seine Gewohnheiten kaum. Er ließ sich lediglich drei schwarze Anzüge und
    Armbinden aus Crêpe schneidern.
    Am Tag nach der Beerdigung fuhr der Sohn zurück nach Paris. Dort blieb er noch viele Jahre. Dann kam er eines Tages überaus ernst und als Staatsanwalt zurück. Das war nicht mehr der junge Schnösel, der mit seiner blasierten Schnute drei Rosen auf den Sarg seiner Mutter geworfen hatte, bevor er ebenso kühl wieder verschwand, aus Angst, er könnte seinen Zug verpassen. Man hätte meinen können, irgendetwas habe ihn von innen heraus zerbrochen und ein wenig geduckt. Aber niemand erfuhr je, was geschehen war. Später zerbrach sein Witwertum ihn vollends. Es hielt ihn auf Distanz. Zur Welt und zu uns. Auch zu sich selbst wahrscheinlich. Ich glaube, er liebte seine junge, überbehütete Blume.
    Der alte Destinat starb acht Jahre nach seiner Frau an den Folgen eines Überfalls. Er war zu einem seiner Pachthöfe unterwegs gewesen, um den Bauern dort abzukanzeln, vielleicht sogar vor die Tür zu setzen. Man fand ihn mit offenem Mund und zerschmetterter Nase im schweren Matsch, den man hierzulande im April den Regengüssen verdankt, die vom Himmel peitschen und die Erde in eine zähe Masse verwandeln. Am Ende ist er dorthin zurückgekehrt, woher er gekommen war. Der Kreis war geschlossen. Sein Geld war ihm zu kaum etwas nütze gewesen. Er war gestorben wie ein Junge vom Bauernhof.
    Und nun war der Sohn wirklich allein. Allein in seinem großen Haus.
    Zwar hatte er die Angewohnheit beibehalten, die anderen von oben herab zu betrachten, aber er war genügsam. Nachdem seine galante Jugend vorbei war, in der er schöne Kleider und ondulierte Wimpern trug, war er bloß noch ein Mann, der stetig älter wurde. Seine Arbeit belegte ihn ganz und gar mit Beschlag. Zu Zeiten des Alten hatte das Schloss sechs Gärtner, einen Wächter, eine Köchin, drei Diener, vier Kammerzofen und einen Chauffeur beschäftigt. Dieses fest an der Kandare gehaltene Völkchen drängte sich in Dienstbotenfluren und in Dachkammern, wo im Winter das Wasser in den Kannen gefror.
    Der Staatsanwalt bedankte sich bei allen. Er war nicht geizig. Jedem gab er ein schönes Empfehlungsschreiben und ein hübsches Sümmchen. Er behielt nur die Köchin, Barbe, die
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