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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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umständehalber auch zur Kammerzofe wurde, und ihren Mann, der Le Grave genannt wurde, weil er immer ernst war und niemand ihn je lächeln gesehen hatte, noch nicht einmal seine Frau, deren Gesicht hingegen von Lachfalten durchzogen und heiter war. Le Grave kümmerte sich, so gut er konnte, um den Besitz und erledigte die anfallenden kleinen Arbeiten. Das Paar ging selten aus. Man hörte sie kaum. Den Staatsanwalt übrigens auch nicht. Das Haus schien zu schlafen. Das Dach eines Türmchens wurde undicht. Eine große Glyzinie, die man wuchern ließ, erstickte mit ihren Ranken mehrere Jalousien. Einige Ecksteine zerbarsten im Frost. Wie die Menschen alterte auch das Haus. Destinat empfing nie Besuch. Er hatte sich von allen abgewandt. Jeden Sonntag ging er zur Messe. Er hatte dort seine eigene Bank, in deren dickes Eichenholz die Initialen seiner Familie geschnitzt waren. Er verpasste keinen einzigen Gottesdienst. Während der Predigten warf der Pfarrer ein wohlwollendes Auge auf ihn, als wäre er der Kardinal oder ein Verbündeter, und zum Schluss, sobald die Gemeinde mit den Schirmmützen und bestickten Schals den heiligen Ort verlassen hatte, begleitete er ihn bis zum Kirchenvorplatz. Unter dem Glockengeläut, während Destinat seine ziegenledernen Handschuhe überstreifte – er hatte zarte Damenhände und Finger so dünn wie Zigarettenspitzen –, tauschten sie Belanglosigkeiten aus, doch im Tonfall von Wissenden, der eine, weil er die Seelen kannte, der andere, weil er unter ihnen die Runde gemacht hatte. Der Tanz war einstudiert. Dann kehrte Destinat nach Hause zurück, und jeder stellte sich seine Einsamkeit vor und machte hämische Bemerkungen darüber.
    Eines Tages begehrte einer der Fabrikdirektoren die Gunst, im Schloss empfangen zu werden. Protokoll, Austausch von Karten, Verbeugung, gezogener Hut. Er wird vorgelassen. Dieser Direktor war ein lustiger, dicker Belgier mit roten, lockigen Koteletten, kurzen Beinen und gekleidet wie ein Gentleman aus einem Roman, mit kurzem Mantel, karierter Hose, Litzen und gewichsten Boots. Kurz, Barbe kommt mit einem großen Tablett und allem, was für den Tee benötigt wird. Sie schenkt ein. Geht hinaus. Der Direktor plaudert. Destinat spricht wenig, trinkt wenig, raucht nicht, lacht nicht, hört höflich zu. Sein Gegenüber redet um den heißen Brei herum, spricht zehn Minuten lang über Billard, dann über die Rebhuhnjagd, Bridge, Havannazigarren, schließlich über die französische Gastronomie. Jetzt ist er schon eine Dreiviertelstunde da. Er schickt sich gerade an, vom Wetter zu reden, als Destinat plötzlich auf die Uhr schaut, ein wenig beiläufig, aber verzögert, damit der andere Gelegenheit hat, es zu bemerken. Der Direktor versteht, hüstelt, stellt seine Tasse ab, hüstelt erneut, nimmt sie wieder auf und stürzt sich schließlich mitten ins Gefecht: Er möchte um einen Gefallen bitten, weiß aber nicht, ob er es wagen kann. Er zögert tatsächlich, fürchtet, taktlos zu sein, vielleicht aufdringlich ... Dann springt er endlich ins kalte Wasser: Das Schloss ist groß, sehr groß, es gibt Nebengebäude, vor allem das kleine, frei stehende Haus im Park, unbewohnt, aber hübsch. Er, der Direktor, habe das Problem, dass die Fabrik gut, zu gut gehe und er immer mehr Personal brauche, Ingenieure, leitende Angestellte vor allem, aber er wisse nicht mehr, wo man diese Kräfte unterbringen solle, denn, nicht wahr, man könne sie doch nicht in die Siedlungen stecken, in die Häuser für Arbeiter, nein, gleich neben diesen Leuten, die manchmal zu viert in einem Bett schlafen, schlechten Wein trinken, bei denen jedes zehnte Wort ein Fluch ist und die sich vermehren wie die Tiere, niemals! Da ist dem Direktor eine Idee gekommen, nur eine Idee ... Falls der Herr Staatsanwalt einverstanden ist, aber nichts verpflichtet ihn natürlich dazu, jeder ist Herr im eigenen Haus, aber dennoch, falls er einverstanden wäre, das kleine Haus im Park zu vermieten, die Fabrik und der Direktor wären ihm überaus dankbar. Natürlich würden sie gut bezahlen, und man würde auch nicht irgendwen dort einquartieren, nur feine höfliche, diskrete, ruhige Leute, nur Stellvertreter von leitenden Angestellten, falls es keine leitenden Angestellten gebe, und ohne Kinder, darauf gibt der Direktor sein Wort und schwitzt mächtig auf seinen falschen Kragen und in seine Stiefel. Er schweigt, wartet, wagt nicht einmal mehr, Destinat anzusehen, der aufgestanden ist, in den Park hinausblickt und in den
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