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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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sich plötzlich an seinen Katechismus. Destinat sah ihn schon nicht mehr. Er klemmte seine Notizen in die Aktenmappe, vier oder fünf Bogen Papier, auf denen er mit seiner kleinen, vornehmen, in violette Tinte getauchten Schrift die Anklagerede niedergeschrieben hatte, eine Hand voll ausgesuchter Worte, die das Publikum meistens zum Zittern und die Geschworenen, falls sie nicht schliefen, zum Nachdenken gebracht hatten. Bloß ein paar Worte, aber sie hatten hingereicht, im Handumdrehen ein Schafott zu errichten, schneller und zuverlässiger als zwei Schreinergesellen in einer Woche.
    Er war dem Verurteilten nicht böse, er kannte ihn nicht mehr. Den Beweis dafür habe ich mit eigenen Augen am Ende einer Verhandlung auf einem Flur gesehen: Destinat kommt heraus, den schönen Hermelin noch auf dem Rücken, mit einem Gesichtsausdruck wie Cato, und begegnet dem Ehemann der zukünftigen Witwe. Der spricht ihn jammernd an. Seine Augen sind noch ganz gerötet vom Urteilsspruch, und mit Sicherheit bereut er in diesem Augenblick die Gewehrschüsse, die er seinem Chef in den Bauch gefeuert hat. «Herr Staatsanwalt», stöhnt er, «Herr Staatsanwalt ...», und Destinat blickt ihm in die Augen, als sähe er die Gendarmen und die Handschellen nicht, und antwortet, wobei er ihm die Hand auf die Schulter legt: «Ja, mein Freund, sind wir uns nicht schon einmal begegnet? Was kann ich für Sie tun?» Ganz ohne Spott, völlig ungezwungen. Der Mann konnte es nicht fassen. Es war wie ein zweiter Urteilsspruch.

    Nach jedem Prozess ging Destinat in den Rebillon, gegenüber der Kathedrale, zum Essen. Der Wirt ist ein schwerer Mann, bleich wie ein Chicorée, mit einem Mund voll schlechter Zähne. Er heißt Bourrache. Er ist nicht besonders schlau, aber er weiß, wo das Geld herkommt. Das ist seine Natur. Es ist nicht seine Schuld. Er trägt immer eine große Schürze aus blauem Leintuch, die ihm das Aussehen eines gegürteten Fasses verleiht. Früher hatte er eine Frau, die nie das Bett verließ, wegen einer Mattigkeit, wie man das in unserer Gegend nennt, wo man häufig beobachten kann, dass gewisse Frauen den Novembernebel mit ihrer eigenen Verzweiflung verwechseln. Später ist sie verstorben, weniger an ihrer Krankheit, der sie sicher unrettbar verfallen war, als wegen dem, was geschehen ist, wegen der Affäre. Zu jener Zeit glichen die Bourrache-Töchter kleinen Lilien, aber mit einem Tropfen reinen Blutes, das ihre Gesichtshaut zart erglühen ließ. Die jüngste war noch keine zehn Jahre alt. Sie hatte kein Glück. Oder vielleicht doch, vielleicht hatte sie sehr viel. Wer weiß? Die beiden älteren hatten nur Vornamen, Aline und Rose, während die Kleine von allen Leuten Belle und von manchen, die sich für Dichter hielten, Belle de Jour genannt wurde. Wenn sie alle drei im Speisesaal waren und Wasserkaraffen, Weinflaschen und Teller brachten und forttrugen, inmitten von Dutzenden Männern, die überlaut sprachen und zu viel tranken, dann schien es mir bei ihrem Anblick, als hätte man Blumen böswillig in eine Schänke verpflanzt. Vor allem die Kleine wirkte auf mich so frisch, dass sie mir von unserer Welt immer weit entfernt vorkam.
    Wenn Destinat das Restaurant betrat, servierte ihm Bourrache, ein Mann mit festen Gewohnheiten, stets den exakt gleichen Satz: «Wieder einer gekürzt, Herr Staatsanwalt!» Der antwortete nichts darauf. Dann führte Bourrache ihn zu seinem Platz. Destinat hatte seinen eigenen Tisch, einen der besten, der das ganze Jahr für ihn reserviert war. Ich habe nicht gesagt: den besten, denn auch den gab es – er stand dicht am riesigen Kachelofen, und man übersah von dort, wenn man durch die Gardinen blickte, den ganzen Gerichtsplatz. Aber dieser Tisch gehörte dem Richter Mierck. Er war Stammgast. Er kam viermal wöchentlich. Sein Bauch, der sich über den Oberschenkeln wölbte, sprach davon ebenso wie seine Haut, blaurot geädert, als würden sämtliche Gläser Burgunder, die er je geleert hatte, darunter kreisen. Mierck mochte den Staatsanwalt nicht sonderlich. Und der empfand das Gleiche für ihn. Ich glaube sogar, dass diese Beschreibung noch hinter der Wahrheit zurückbleibt. Man sah jedoch, wie sie sich ernst, mit gezogenem Hut, grüßten, zwei Männer, die in jeder Hinsicht gegensätzlich sind, aber das gleiche Stammessen haben.
    Das Erstaunlichste war, dass Destinat selten in den Rebillon kam und doch seinen Tisch hatte, der also drei viertel des Jahres leer blieb. Ein erheblicher Verlust für
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