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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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aufzufüllen, falls das Wasser einmal niedrig stehen sollte. Die Arbeiten haben gut und gern zehn Jahre gedauert; überall liefen Herren im Schlips mit Taschen voller Geldscheine herum und kauften im Vorbeigehen das Land auf. Zu jener Zeit wurde man manchmal einen ganzen Monat lang nicht mehr nüchtern, mit so leichter Hand spendierten sie ihre Runden. Eines Tages wurden sie dann nicht mehr gesehen. Sie waren abgereist. Die Stadt gehörte ihnen. Der Rausch der Leute verflog. Danach hieß es arbeiten. Arbeiten für jene Herren.
    Um aufs Schloss zurückzukommen: Die Ehrlichkeit gebietet zu sagen, dass es das beeindruckendste Gebäude im ganzen Städtchen ist. Der alte Destinat, ich meine den Vater, hatte es kurz nach der Niederlage von Sedan bauen lassen. Und er hatte nicht geknausert. Wenn man in unserer Gegend schon wenig spricht, so möchte man doch zuweilen mit anderen Mitteln Eindruck machen. Der Staatsanwalt hat immer dort gewohnt. Ja, mehr als das: Er wurde dort geboren und ist dort gestorben. Das Schloss ist riesig, es hat kein menschliches Maß. Umso weniger, als die Familie nie sonderlich groß war. Der alte Destinat stoppte die Produktion, sobald er einen Sohn bekommen hatte. Offiziell war er befriedigt. Was ihn nicht daran hinderte, nebenbei einige Bäuche mit sehr hübschen Bastarden zu füllen, denen er bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr jährlich ein Goldstück gab und an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ein schönes Empfehlungsschreiben sowie einen symbolischen Tritt in den Hintern, damit sie sich weit weg ein Bild davon machten, ob die Erde wirklich rund ist. So etwas nennt man bei uns Großzügigkeit. Nicht jeder verhält sich so. Der Staatsanwalt war der letzte Destinat. Es wird keine weiteren mehr geben. Nicht weil er unverheiratet geblieben wäre, sondern weil seine Frau zu früh gestorben ist, sechs Monate nach der Hochzeit, bei der alles, was die Gegend an vermögenden und angesehenen Leuten zu bieten hatte, zusammenkam. Die junge Frau war eine de Vincey. Ihre Vorfahren hatten in Crécy gekämpft. Wahrscheinlich ganz gewöhnliche Leute, aber niemand weiß es genau oder schert sich darum. Ich habe ein Porträt von ihr gesehen, das zur Zeit ihrer Hochzeit gemalt wurde und in der Eingangshalle des Schlosses hängt. Der Maler war aus Paris angereist. In ihren Gesichtszügen hatte er ihr nahes Ende erfasst. Dieses Gesicht einer Todgeweihten, diese Resignation darin, war erstaunlich. Mit Vornamen hieß sie Clélis. Das ist kein gewöhnlicher Name, und er ist sehr hübsch in den rosafarbenen Marmor ihres Grabsteins graviert. Im Schlosspark könnte sich ein ganzes Regiment einquartieren, ohne sich beengt zu fühlen. Er ist von Wasser umgeben: Hinten führt ein schmaler öffentlicher Fußweg entlang, der als Abkürzung zwischen dem Rathaus und dem Verladehafen dient; außerdem gibt es den kleinen Kanal, von dem ich gesprochen habe und über den der Alte eine rot getünchte japanische Brücke hat bauen lassen. Die Leute nennen sie Le Boudin, weil ihre Farbe an Blutwurst erinnert. Am anderen Ufer sieht man die großen Fenster eines hohen Gebäudes, das Labor der Fabrik, wo die Ingenieure sich den Kopf darüber zerbrechen, wie ihr Direktor noch mehr Geld verdienen kann. Rechts vom Park plätschert ein schmales, gewundenes Flüsschen, die Guerlante. Alles ist mit Wasser durchtränkt. Der Schlosspark ist wie ein großer, durchweichter Schwamm. Ständig tropft es von den Pflanzen hinunter. Ein Ort, um krank zu werden. Genau das geschah mit Clélis Destinat: Innerhalb von drei Wochen war alles vorbei, zwischen dem ersten Hausbesuch des Arztes und der letzten Schaufel von Ostrane, dem Totengräber, die er immer betont langsam verstreut. «Warum gerade diese letzte und nicht die anderen?», habe ich ihn eines Tages gefragt. «Weil diese», war seine Antwort, «in Erinnerung bleiben muss...» Ostrane ist ziemlich redselig und liebt die effektvollen Gesten. Er hat den falschen Beruf, ich hätte ihn mir gut im Theater vorstellen können. Der alte Destinat kam direkt von der Scholle, doch ist es ihm innerhalb von fünfzig Jahren gelungen, sich mit Hilfe von Geldscheinen und Goldsäcken gründlich vom Dreck zu reinigen. Er war in eine andere Gesellschaft eingetreten. Er beschäftigte sechshundert Leute, besaß fünf Pachtgüter, achthundert Hektar Wald, alles Eichen, endlose Weideflächen, zehn Mietshäuser in V. und ein dickes Aktienpolster – keine Luschen, keine Panamapapiere –, auf dem sich zehn Männer
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