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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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Mord zwischen den Zähnen hat, einen Kindsmord außerdem, und zur Krönung ist das Opfer ein kleines Mädchen. Und dann sagt er, während er Grimassen schneidet und sich geziert auf dem Absatz herumdreht, noch immer mit Eigelb im Schnurrbart: «Und was ist das da für eine Tür?» Daraufhin sehen alle zu der fraglichen Tür, als wäre sie gerade erst aufgetaucht wie die Jungfrau Maria, eine kleine, halb geöffnete Tür, die auf vereistes und zertretenes Gras führt, eine Tür, die eine Lücke bildet in einer langen Einfriedung aus hohen Mauern, und hinter dieser Einfriedung ein Park, ein richtiger Park mit richtigen Bäumen, und hinter den Bäumen mit ihrem kahlen, ineinander verschlungenen Astwerk der Umriss eines hohen Wohnhauses, eines Herrenhauses, eines großen, verschachtelten Gebäudes. Es ist Brechut, der, händeringend wegen der Kälte, das Wort ergreift:
    «Na, das ist doch der Park vom Schloss.»
«Ein Schloss ...», wiederholt der Richter, als würde er
sich über ihn lustig machen.
    «Na ja, das Schloss vom Staatsanwalt.» «Sieh mal an, hier ist das also ...», sagte der Richter, mehr zu sich als zu uns übrigen, die für ihn von nun an wohl unwichtiger waren als ein Fliegenschiss. Man hätte glauben können, er sei erfreut darüber, dass er den Namen seines Gegenspielers hörte und dass dieser Name nun vom üblen Geruch eines gewaltsamen Todes umgeben war, der Name eines Mannes, so mächtig wie er selbst, den er hasste, ohne dass man genau wusste warum, vielleicht, weil der Richter Mierck nichts konnte als hassen, weil das sein eigentliches Wesen war. «Gut, gut, gut», fing er, plötzlich munter geworden, wieder an und presste seinen dicken Körper auf den exotischen Ruhesitz, den er genau gegenüber der kleinen, in den Schlosspark führenden Tür aufgeschlagen hatte. Und so blieb er lange sitzen, ließ sich festfrieren wie ein Spatz auf der Wäscheleine, während die Gendarmen mit den Füßen stampften und in die Handschuhe bliesen, Brechuts Sohn seine Nase nicht mehr spürte und Crouteux sich grauviolett verfärbte. III

    Man muss schon sagen, dass das Schloss etwas Besonderes ist. Mit seinen Ziegelmauern und Schieferdächern imponiert es selbst unbestechlichsten Leuten und bildet so etwas wie ein Schmuckstück in unserem Villenviertel – o ja, wir haben eines, dazu ein Krankenhaus, das in jenen Jahren der weltumfassenden Schlächterei nie leer wurde, zwei Schulen, eine für Mädchen und eine für Jungen, und eine riesige Fabrik mit runden Schornsteinen, die bis in den Himmel reichen und ihm sommers wie winters, bei Tag und Nacht, ihre Federbüsche aus Rauch und Ruß entgegenblasen. Seit die Fabrik Ende der achtziger Jahre errichtet wurde, ernährt sie die ganze Region. Es gibt nur wenige Männer, die nicht dort arbeiten; fast alle haben ihre Weinberge und Felder im Stich gelassen. Seitdem haben sich Brachland und Brennnesseln im Eiltempo über die weite Anhöhe ausgebreitet und Obstgärten, Weinstöcke und fruchtbaren Ackerboden unter sich begraben.
    Unsere Stadt ist nicht sonderlich groß. Sie ist nicht V., weit entfernt davon. Dennoch kann man in ihr verloren gehen. Damit meine ich, dass sie genügend dunkle Winkel und Aussichtspunkte besitzt, einen passenden für jeden, der seine Melancholie pflegen will. Der Fabrik verdanken wir das Krankenhaus, die Schulen, selbst die kleine Bücherei, in die nicht jedes dahergelaufene Buch aufgenommen wird.
    Der Direktor der Fabrik hat weder Namen noch Gesicht, er ist eine «Gruppe», wie man sagt, und die ganz Schlauen fügen hinzu: ein «Konsortium». Reihenhäuser sind entstanden, wo einst bestelltes Land war. Viele kleine Straßen, alle gleich bebaut, eine wie die andere. Zu einem geringen oder auch sehr hohen Preis – Schweigen, Gehorsam, sozialer Friede – vermietete Häuser für Arbeiter, die nicht so viel erwartet hatten und die es zunächst eher eigenartig fanden, in ein Wasserklosett zu pinkeln, nicht mehr durch ein schwarzes Loch in einem Fichtenbrett. Die alten Bauernhöfe, die wenigen, die noch Widerstand leisten, stehen gedrängt, dicht um die Kirche herum, schmiegen ihre alten Mauern und niedrigen Fenster aneinander und entlassen durch die halb offenen Türen ihrer Scheunen säuerliche Gerüche nach Stall und geronnener Milch.
    Es wurden sogar zwei Kanäle für uns gegraben, ein großer und ein kleiner. Der große für die Schleppkähne, die Kohle und Kalk herbeibringen und Sodiumkarbonat wieder fortschaffen.
    Der kleine, um den großen
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