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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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war das Einzige, was ich tun konnte, und ich habe es getan. Ich nahm das Kissen weg und weinte. Weinte, weil ich an dich dachte, nicht an den Kleinen.
    Dann holte ich den Arzt Hippolyte Lucy und sagte ihm, dass das Kind nicht mehr atmete. Er kam mit und trat ins Zimmer. Das Kind lag auf dem Bett. Sein Gesicht war immer noch das eines unschuldigen, friedlichen, monströsen Schlafenden.
    Der Arzt zog es aus. Er legte die Wange an seinen ge
    schlossenen Mund. Er hörte sein Herz ab, das nicht mehr schlug. Er sagte nichts. Er schloss seine Tasche und wandte sich mir zu. Wir sahen uns an. Er wusste es. Ich wusste, dass er es wusste, aber er sagte nichts. Er ging aus dem Zimmer und ließ mich mit dem kleinen Leichnam allein.
    Ich habe den Kleinen an deiner Seite bestatten lassen. Ostrane erzählte mir, Neugeborene verschwänden in der Erde wie ein Hauch im Wind, bevor man überhaupt Zeit habe, sie zu bemerken. Er sagte das ohne Arg. Es sah aus, als freue ihn der Gedanke.
    Ich habe den Namen des Kindes nicht auf das Grab schreiben lassen.
    Das Schlimme ist, ich empfinde auch heute keinerlei Reue und würde bedenkenlos dasselbe wieder tun, so wie ich es damals ohne Reue getan habe. Ich bin nicht stolz darauf. Aber ich schäme mich dessen auch nicht. Nicht der Schmerz hat mich so handeln lassen; es war die Leere. Die Leere, in der ich zurückgelassen worden war und in der ich bleiben wollte. Wäre er an meiner Seite aufgewachsen, dann wäre er sehr unglücklich geworden in der Gegenwart eines Vaters, für den das Leben nur eine mit einer einzigen Frage erfüllte Leere war, ein tiefes, bodenloses Loch, um dessen Rand ich im Gespräch mit dir fortwährend kreiste. Gestern bin ich zum Pont des Voleurs hinübergeschlendert. Erinnerst du dich? Wie alt waren wir damals? Knapp zwanzig? Du hattest ein hellrotes Kleid an. Mein Magen krampfte sich zusammen. Wir standen auf der Brücke und sahen in den Fluss hinunter. Diese Strömung, sagtest du, das ist das Leben, das verfließt. Schau, wie weit es führt, schau, wie schön es ist dort zwischen den Seerosenblüten, den langhaarigen Algen, den Uferböschungen aus Lehmerde. Ich wagte nicht, deine Taille zu umfassen. Der Knoten in meinem Bauch war so fest, dass ich kaum Luft bekam. Deine Augen sahen in die Ferne, meine in deinen Nacken. Du hast nach Heliotrop geduftet. Dann hast du dich überraschend zu mir umgedreht, gelächelt und mich geküsst. Es war das erste Mal. Das Wasser floss unter der Brücke dahin. Die Welt glänzte sonntäglich. Die Zeit blieb stehen. Gestern bin ich lange auf dem Pont des Voleurs geblieben. Der Fluss hat sich nicht verändert. Es gibt noch immer die großen Seerosen, die langhaarigen Algen, die Böschungen aus Lehmerde. Dazu den frischen Duft von gemähtem Gras.
    Ein Kind stellte sich neben mich, ein Junge mit hellen Augen. Sagte: «Guckst du dir die Fische an?» Und sprach weiter, leicht enttäuscht: «Es sind viele Fische da drin, aber man sieht sie nie.» Ich antwortete nicht. Es gibt so vieles, was man nie sieht. Er stützte sich neben mir aufs Geländer, und wir blieben eine Weile so stehen, umtönt vom Quakender Frösche und vom Rauschen des Wassers. Er und ich. Anfang und Ende. Und ich bin weggegangen. Der Junge folgte mir für einen Augenblick, dann ist er verschwunden.
    Heute geht alles zu Ende. Ich habe meine Zeit ausgeschöpft, und die Leere ängstigt mich nicht mehr. Du hältst mich vielleicht für ein Schwein, für nicht besser als die anderen. Du hast Recht. Natürlich hast du Recht. Verzeih mir, was ich getan habe, und verzeih mir vor allem, was ich nicht getan habe.
    Ich hoffe, du wirst bald von Angesicht zu Angesicht über mich urteilen können. Plötzlich wünsche ich, dass es Gott gibt und damit den ganzen Hokuspokus und den Quatsch, mit dem sie uns die Köpfe voll stopften, als wir noch klein waren. Wenn es so ist, wirst du Mühe haben, mich wieder zu erkennen. Du hast einen jungen Mann zurückgelassen und wirst fast schon einen Greis wieder sehen, gebrechlich, schrundig. Du hast dich nicht verändert, ich weiß. Das ist nun mal das Wesen der Toten. Eben habe ich Gachentards Karabiner von der Wand

abgehängt. Ich habe ihn auseinander genommen, eingefettet, gereinigt, wieder zusammengesetzt, geladen. Ich wusste, dass ich meine Geschichte heute zu Ende bringen würde. Der Karabiner liegt jetzt neben mir. Draußen ist es hell und mild. Wir haben Montagmorgen. So. Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich habe alles ausgesprochen, alles gestanden.
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