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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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tauchte häufig auf. Ich glaube, sie hatte den einsamen Mann, bei dem sie wohnte, ins Herz geschlossen. Sie sprach von ihm mit zärtlicher Ironie, notierte, ohne sich etwas von ihm vorspiegeln zu lassen, seine Bemühungen, ihr zu gefallen, machte sich ohne allzu viel Bosheit lustig darüber, dass er manchmal errötete, über sein Stammeln, seine Aufmachung, seine Spaziergänge um das Haus herum, seine zu ihrem Zimmerfenster erhobenen Blicke. Tristesse erheiterte sie, und ich glaube, ich kann gefahrlos beschwören, dass Lysia Verhareine das einzige menschliche Wesen war, das zu erheitern dem Staatsanwalt je gelungen ist. Das berühmte Abendessen, von dem mir Barbe erzählt hatte, beschrieb das Mädchen in einem Brief mit Datum vom 15. April 1915:

    Mein Geliebter,
    gestern Abend war ich bei Tristesse zu Tisch geladen. Es war das erste Mal. Alles war sehr förmlich: Vor drei Tagen fand ich unter meiner Tür ein Kärtchen: Der Staatsanwalt Monsieur Pierre-Ange Destinat bittet Mademoiselle Lysia Verhareine, ihm am 14. April um 8 Uhr zum Abendessen die Ehre zu geben. Ich war auf ein Festmahl in großer Gesellschaft vorbereitet, aber wir waren allein, nur er und ich in trauter Zweisamkeit in einem riesigen Esszimmer, in dem man sechzig Personen unterbringen könnte. Es war ein richtiges Liebesmahl. Nein, ich scherze. Tristesse ist beinahe ein Greis, das habe ich dir ja schon geschrieben. Aber gestern sah er aus wie ein Minister oder Kanzler und hielt sich kerzengerade in seinem Frack, der einer Opernsoiree würdig gewesen wäre. Der Tisch war überwältigend: das Geschirr, das Tafeltuch, das Silber, ich hatte den Eindruck, als wäre ich ... ich weiß nicht, in Versailles vielleicht!
    Nicht Barbe bediente uns bei Tisch, sondern ein ganz junges Mädchen. Wie alt mochte sie wohl sein? Acht, neun Jahre vielleicht. Sie nahm ihre Rolle ernst und schien an sie gewöhnt zu sein. Manchmal schob sie die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, wie Kinder es machen, wenn sie sich bei etwas große Mühe geben. Ab und zu kreuzten sich unsere Blicke, und sie lächelte mich an. Das alles war ziemlich seltsam: unsere Zweisamkeit, das Essen und das Mädchen. Barbe hat mir heute erzählt, das Mädchen sei die Tochter eines Wirtes aus V. und werde Belle genannt, was bezaubernd zu ihr passt. Ihr Vater hatte das Mahl zubereitet, und es war hervorragend, auch wenn wir die Speisen kaum angerührt haben. Ich glaube nicht, dass ich jemals ein solches Festmahl gesehen habe, doch halt, ich schäme mich, wenn ich dir davon erzähle, denn du isst sicher schlecht und wirst oft vielleicht noch nicht einmal satt! Verzeih mir, mein Liebster, ich bin töricht ... Ich versuche, dich zu unterhalten, und streue nur Salz in die Wunde ... Du fehlst mir so. Warum schreibst du mir nicht öfter? Dein letzter Brief liegt jetzt schon sechs Wochen zurück. Und immer noch keine Urlaubserlaubnis. Dennoch weiß ich, dass dir nichts zugestoßen ist, ich spüre es, ich spüre es. Schreib mir, mein Geliebter. Deine Worte helfen mir zu leben, so wie es mir hilft, in deiner Nähe zu sein, auch wenn ich dich nicht sehe, auch wenn ich dich nicht in die Arme schließen kann. Während des Abendessens war Tristesse nicht sehr redselig. Er war schüchtern wie ein Junge, und wenn ich ihn etwas zu lange ansah, errötete er. Als ich ihn gefragt habe, ob er seine Einsamkeit nicht als zu große Last empfinde, hat er lange nachgedacht und dann ernst und sanft gesagt: «Alleinsein ist die Lebensbedingung des Menschen, was auch immer geschieht.» Ich fand seine Worte sehr schön und zugleich grundfalsch: Du bist nicht an meiner Seite, aber dennoch ist es so, als würde ich dich in jeder Sekunde spüren, und oft spreche ich laut mit dir. Kurz vor Mitternacht hat er mich zur Tür begleitet und mir einen Handkuss gegeben. Das kam mir sehr romantisch vor, aber auch reichlich verstaubt! Ach, mein Geliebter, wie lange wird dieser Krieg noch dauern? Manchmal träume ich nachts, dass du neben mir liegst, ich spüre dich, berühre dich im Schlaf. Und am Morgen öffne ich die Augen nicht sofort, um länger im Traum bei dir zu verweilen und glauben zu können, das sei das wahre Leben und alles, was mich am Tag erwartet, nur ein Albtraum.
    Ich vergehe danach, in deinen Armen zu liegen. Ich küsse
dich so fest, wie ich dich liebe.
Deine Lyse

    Je mehr Zeit verging, desto deutlicher schlich sich ein Tonfall von Niedergeschlagenheit, ja sogar Wut in die Briefe der jungen Lehrerin. Sie, die man immer
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