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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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den Umschlag gegeben und ist wieder gegangen.
    Vor Freude weinend habe ich deine Worte gelesen. Ich trage deinen Brief an meinem Herzen, ja, auf meinem Herzen, direkt auf der Haut, und ich habe das Gefühl, als wärest du selbst hier, mit deiner Wärme, deinem Duft. Ich schließe die Augen ...
    Ich habe so schreckliche Angst um dich. Hier gibt es ein Krankenhaus, in das viele Verwundete eingeliefert werden. Jeden Tag kommen ganze Lastwagenladungen. Ich fürchte so sehr, dich eines Tages dort zu entdecken. Die Armen sind unmenschlich entstellt, manche haben kein Gesicht mehr, andere stöhnen, als hätten sie den Verstand verloren.
    Pass auf dich auf mein Geliebter, denk an mich, denn ich
liebe dich und möchte deine Frau werden. Ich küsse dich
zärtlich.
Deine Lyse

    23. Januar 1915
Mein Geliebter,
    du fehlst mir. Wie viele Monate sind vergangen, ohne dass ich dich sehen, sprechen, berühren konnte? Warum bekommst du keine Urlaubserlaubnis? Ich bin traurig. Ich versuche, vor meinen Kindern ein fröhliches Gesicht zu machen, aber manchmal fühle ich die Tränen in mir hochsteigen. Dann drehe ich mich zur Tafel um, damit sie nichts bemerken, und schreibe Buchstaben an. Dennoch habe ich keinen Grund, mich zu beklagen. Alle hier sind nett zu mir, und ich fühle mich wohl in dem kleinen Haus. Tristesse bewahrt mir gegenüber immer dieselbe respektvolle Distanz, aber er versäumt es nie, mir über den Weg zu laufen, um mich wenigstens einmal am Tag zu grüßen. Ich weiß nicht, ob es vielleicht an der Kälte lag, aber gestern ist er, glaube ich, errötet. Er hat eine alte Dienerin, Barbe, die mit ihrem Mann im Schloss wohnt. Ich verstehe mich gut mit ihr. Manchmal esse ich mit ihnen gemeinsam.
    Ich habe mir angewöhnt, jeden Sonntag auf den Kamm einer Anhöhe zu steigen. Es gibt dort eine große Wiese, und man sieht den ganzen Horizont. Da drüben bist du, mein Geliebter. Ich sehe Rauchwolken und Explosionen. Ich bleibe, so lange ich kann, bis ich meine Füße und Hände nicht mehr spüre – so heftig ist der Frost –, weil ich deine Leiden ein wenig teilen möchte. Mein armer Geliebter, wie lange wird das noch weitergehen? Ich küsse dich zärtlich und warte auf deine Briefe. Deine dich liebende Lyse.

    XXV

    In dem schmalen Heft aus rotem Maroquinleder waren viele solcher Seiten, bedeckt mit einer feinen, geneigten Schrift, die aussah wie ein zarter Fries. Viele Seiten, gefüllt mit abgeschriebenen Briefen, verschickt von Lysia Verhareine an den Mann, den sie liebte und dem sie nachgereist war.
    Er trug den Namen Sebastien Francoeur, war vierundzwanzig Jahre alt und Gefreiter der Infanterie. Sie schrieb ihm jeden Tag. Sie erzählte ihm von den Stunden, die ihr lang wurden, dem Lachen der Kinder, dem Erröten Destinats, den Geschenken Martial Maires, des Schwachsinnigen, für den sie eine Göttin geworden war, vom Frühling, der den Park mit Primeln und Krokussen verschönt hatte. Das alles erzählte sie ihm, indem sie ihm schrieb, mit ihrer kleinen, leichten Hand und in ebenso leichten Sätzen, hinter denen jemand, der sie gekannt hatte, ihr Lächeln erahnen konnte. Sie sprach vor allem von ihrer Liebe und ihrer Einsamkeit, dem Riss in ihrem Innern, den sie so gut vor uns verbarg, vor uns, die wir ihr täglich begegneten und doch nie etwas davon geahnt hatten.
    Die Briefe ihres Geliebten waren in dem Heft nicht enthalten. Übrigens bekam sie nur wenige: neun in acht Monaten. Natürlich zählte sie sie. Und bewahrte sie auf, las sie immer wieder. Wo bewahrte sie sie auf? Vielleicht nahe dem Herzen, ganz nahe bei sich, auf der Haut, wie sie schreibt.
    Warum nur so wenige Briefe? Keine Zeit? Nicht der richtige Ort? Oder keine Lust? Wir wissen, was die anderen uns bedeuten, aber wir wissen nie, was wir den anderen bedeuten. Liebte er sie wie sie ihn? Ich würde es gern glauben, aber ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls lebte die kleine Lehrerin von diesem Briefwechsel, ihr Blut floss in ihre Worte, und das Licht im Haus brannte noch spät in der Nacht, wenn sie, nachdem sie die Hefte ihrer Schüler korrigiert hatte, die Feder nahm, um einen Brief zu verfassen und ihn anschließend in das Heft aus rotem Maroquinleder zu kopieren. Denn sie hat alle abgeschrieben, als hätte sie damit das Tagebuch einer langen Abwesenheit zu führen, einen Kalender verwaister Tage, fern von dem Mann, dem zuliebe sie zu uns ins Exil gegangen war, ein bisschen wie die Seiten, die Destinat aus seinen Tageskalendern riss.
    Der Name Tristesse
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