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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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begafft haben. Andere müssen es nicht auch noch sehen, vor allem nicht den letzten Brief, der sozusagen heilig ist, ein Abschied von der Welt, ihre letzten Worte, obwohl sie noch nicht ahnen konnte, dass es ihre letzten sein würden, als sie sie schrieb.
    Nach diesem Brief folgt nichts mehr.
Nur noch weiße Seiten.
Das Weiß des Todes.
Die Schrift des Todes.

    XXVI

    Wenn ich sage, dass auf diesen Brief nichts folgte, stimmt das nicht ganz. Sogar in zweifacher Hinsicht. Zunächst folgt noch ein Brief, der nicht von Lysia stammt, ein kleines, hinter ihren letzten Worten in das Heft eingelegtes Blatt. Er wurde von einem gewissen Hauptmann Brandieu verfasst und datiert vom 27. Juli 1917, muss aber am 4. August im Schloss angekommen sein. So viel ist sicher. Der Hauptmann schreibt:

    Mademoiselle,
    ich schreibe Ihnen, weil ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen muss: Bei einem Vorstoß auf die feindlichen Stellungen wurde der Gefreite Bastien Francoeur vor zehn Tagen von einer Maschinen gewehrsalve am Kopf getroffen. Die Kameraden kamen ihm zu Hilfe und brachten ihn in unseren Schützengraben, wo ein Sanitäter allerdings nur noch die außerordentliche Schwere seiner Verwundungen fest stellen konnte. Zu unserem tiefsten Bedauern ist der Gefreite Francoeur in den darauffolgenden Minuten ver storben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich kann Ihnen versichern, dass er wie ein Soldat gestor ben ist. Er stand seit Monaten unter meinem Befehl, und er hat sich stets sehr tapfer gezeigt und sich selbst für die gefährlichsten Aufträge freiwillig gemeldet. Er wurde von seinen Kameraden geliebt und von seinen Vorgesetzten geachtet.
    Ich kenne die Natur Ihrer Beziehungen zu dem Gefreiten Francoeur nicht, aber weil seit seinem Tod einige Briefe von Ihnen eingetroffen sind, halte ich es für richtig, nicht nur seine Familie, sondern auch Sie von seinem
    tragischen Ende in Kenntnis zu setzen.
Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, dass ich Ihren
Schmerz teile, und übermittle Ihnen mein aufrichtigstes
Beileid.
Hauptmann Charles-Louis Brandieu

    Seltsam, in wie vielen Gestalten der Tod uns begegnet: Ein kleiner, einfacher Brief voll aufrichtiger Gefühle und Mit-leid kann genauso sicher töten wie ein Messer, eine Kugel oder Granaten.
    Lysia Verhareine hat diesen Brief bekommen. Hat ihn gelesen. Ob sie schrie, weinte, tobte, verstummte? Ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass der Staatsanwalt und ich einige Stunden später in ihrem Zimmer standen, dass sie tot war, dass wir uns verständnislos ansahen. Nun ja, verständnislos war zumindest ich: Er verstand bereits oder sollte bald verstehen, denn er hatte das Heft aus rotem Maroquinleder an sich genommen. Warum hatte er das getan? Um die Unterhaltung beim Abendessen fortzuführen, um weiter mit ihrem Lächeln, ihren Worten leben zu können? Wahrscheinlich. Tot war der Soldat, der Geliebte, der Mann, für den sie alles aufgegeben hatte, für den sie jeden Sonntag auf die Anhöhe gestiegen war, für den sie jeden Tag zur Feder gegriffen hatte, für den ihr Herz schlug. Und was hatte er gesehen, als der Tod ihm den Kopf zertrümmerte? Lyse? Eine andere? Nichts? Ein großes Geheimnis.

    Nicht nur der Brief war in das Heft eingelegt. Es gab auch noch drei Fotografien, auf der letzten Seite nebeneinander eingeklebt. Und diese Abfolge regloser Kinematographie hatte Destinat zusammengestellt. Auf der ersten erkannte man das Modell, das für das große Porträt in der Eingangshalle des Schlosses posiert hatte: Clélis de Vincey, damals vielleicht siebzehn Jahre alt. Das Foto zeigte sie inmitten einer mit Spiräen übersäten Wiese, jenen Blumen, die man Reine des prés, Wiesenkönigin, nennt. Das Mädchen lachte. Sie war ländlich gekleidet, und die Schlichtheit ihrer Kleidung unterstrich nur ihre Eleganz. Ein breitkrempiger Hut tauchte eine Hälfte ihres Gesichtes in tiefen Schatten, aber ihre vom Licht beschienenen Augen, ihr Lächeln, der Sonnenstrahl auf ihrer Hand, mit der sie die Hutkrempe gegen den Wind festhielt — all das verlieh ihrem Gesicht eine hinreißende Anmut. Sie war die eigentliche Königin der Wiese.
    Die zweite Fotografie war auseinander geschnitten worden, was man an den glatten Rändern links und rechts und an dem seltsam länglichen Format erkennen konnte, aus dem ein glückliches Mädchen direkt auf den Betrachter schaute. Auf diese Weise hatte Destinats Schere Belle de Jour aus der Fotografie isoliert, die Bourrache ihm gegeben hatte.
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