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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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«Eine richtige heilige Jungfrau», hatte der Vater mir gesagt. Und richtig. Das Gesicht der Kleinen strahlte etwas Religiöses aus: ungekünstelte Schönheit, Güte, schlichten Glanz. Auf der dritten Fotografie schien Lysia Verhareine, den Rücken an einen Baum gelehnt, die Hände flach auf der Rinde, mit erhobenem Kinn und halb geöffnetem Mund den Kuss des Mannes zu erwarten, der das Foto gemacht hatte. Sie sah so aus, wie ich sie gekannt hatte. Nur ihr Gesichtsausdruck war anders. Ein solches Lächeln hatte sie uns nie geschenkt, niemals. Es war ein Lächeln des Verlangens und der bedingungslosen Liebe, und es verstörte mich, sie so zu sehen, ich schwöre es, denn plötzlich trug sie keine Maske mehr, und man verstand, wie sie wirklich war und wozu sie fähig sein mochte, für ihren Geliebten oder auch gegen sich selbst. Das Merkwürdigste an alledem aber — und nicht nur der Schnaps, den ich bei diesen Betrachtungen hinunterschüttete, ließ mich das erkennen — war der Eindruck, dass man drei Porträts desselben Gesichts vor sich hatte, aufgenommen in verschiedenen Lebensaltern und unterschiedlichen Epochen.
    Belle de Jour, Clélis, Lysia, das waren drei Inkarnationen derselben Seele, einer Seele, die den Körpern, die ihr übergestreift waren, dasselbe Lächeln, dieselbe unvergleichliche Sanftmut eingegeben hatte. Dieselbe Schönheit, die gegangen und wiedergekehrt, erschienen und verschwunden, geboren und zerstört worden war. Es drehte sich einem der Kopf, wenn man sie so nebeneinander sah. Man blickte von einer zur anderen, begegnete aber doch nur einer Person. Darin lag etwas zugleich Reines und Teuflisches, eine Mischung aus Heiterkeit und Grauen. Man mochte angesichts dieser Beständigkeit beinahe glauben, dass das Schöne, trotz der Zeit, die alles auslöscht, bleibt, in welcher Form auch immer, und dass alles, was einmal war, irgendwann wiederkehrt.
    Ich habe an Clemence gedacht. Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich eine vierte Fotografie hinzufügen können, um die Reihe zu vervollständigen. Ich klappte das Heft zu.
    Mein Kopf schmerzte: zu viele Gedanken. Zu viele Stürme. Und das alles wegen drei kleinen Fotografien, zusammengefügt von einem alten, einsamen Mann, der wusste, was Lebensüberdruss bedeutet. Fast hätte ich das ganze Zeug verbrannt. Ich habe es nicht getan. Berufliche Gewohnheit. Man vernichtet keine Beweise. Aber Beweise wofür? Dass man die Lebenden nicht wirklich hat sehen können als die, die sie waren? Dass keiner von uns je gesagt hat: «Na so was, die kleine Bourrache ähnelt Lysia Verhareine ja wie ein Haar dem anderen!» Dass Barbe nie zu mir gesagt hat: «Die Lehrerin war der verstorbenen Madame aber wie aus dem Gesicht geschnitten!»
    Doch vielleicht konnte nur der Tod diese Ähnlichkeit
    enthüllen. Vielleicht konnten nur der Staatsanwalt und ich es sehen. Vielleicht waren wir uns beide ähnlich, ähnlich in einer gewissen Verrücktheit. Wenn ich an die langen, feinen, gepflegten Hände Destinats denke, sehnig und voller Altersflecken, wenn ich mir vorstelle, wie sie an einem Winterabend den schlanken Hals von Belle de Jour umspannen, während auf ihrem Kindergesicht das Lächeln verschwindet und eine bedeutende Frage in ihre Augen tritt, wenn ich mir diese Szene, die stattgefunden hat oder auch nicht, heute ausmale, dann sage ich mir, dass Destinat damals kein Kind erdrosselt hat, sondern eine Erinnerung, ein Leid, und dass er in seinen Händen, unter seinen Fingern, plötzlich den Geist von Clélis und von Lysia Verhareine spürte und versuchte, diesen Geist zu erwürgen, um sich für immer von ihm zu befreien, damit er sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören, sich ihnen in den Nächten nicht mehr, ohne sie jemals zu erreichen, nähern musste, damit er nicht mehr vergeblich liebte.
    Die Toten zu töten ist schwer. Sie zum Verschwinden zu bringen – wie oft habe ich das versucht. Alles wäre so einfach, wenn das ginge.
    Andere Gesichter hätten sich also über das Gesicht des Kindes geschoben, dieses Kindes, dem er am Ende eines eisigen Schneetages zufällig begegnet wäre, als die Nacht näher rückte und mit ihr jene schmerzlichen Schatten. Plötzlich hätten sich Liebe und Verbrechen vermischt, als könnte man nur töten, was man auch liebt. Das wäre alles gewesen.
    Lange habe ich mit der Vorstellung gelebt, Irrtum, Illusion, Hoffnung, Erinnerung und Grauen hätten Destinat zum Mörder gemacht. Ich fand sie schön. Es war und blieb Mord, aber er wurde
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