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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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unter der Erde und in vollständiger Finsternis. Ich weiß, ihre Augen sind seit langem hohl und leer, und an ihren gefalteten Händen ist kein Fleisch mehr.
    Falls jemand wissen wollte, womit ich die vielen Jahre beschäftigt war, die lange Zeit, die mich bis zum heutigen Tag geführt hat, dann wüsste ich kaum, was ich antworten sollte. Ich habe die Jahre nicht vergehen sehen, auch wenn mir jedes einzelne davon lang vorkam. Ich habe eine Flamme genährt und die Dunkelheit befragt, ohne etwas anderes herauszufinden als wenig aufschlussreiche, bruchstückhafte Antworten.
    Mein ganzes Leben hängt an diesem Gespräch mit einer Reihe von Toten. Dieses Gespräch hat mir gereicht, um mein Leben fortzusetzen und auf das Ende zu warten. Ich sprach mit Clémence. Ich beschwor die anderen herauf. Nur wenige Tage gab es, an denen ich sie nicht vor mich zitierte.
    Aber vielleicht hat gerade das mich durchhalten lassen, dieses Gespräch mit einer Stimme, die immer dieselbe, immer meine eigene war, sowie die Undurchsichtigkeit des Verbrechens, an dem womöglich allein die Undurchsichtigkeit unseres Lebens schuld ist. Merkwürdiges Leben: Erfahren wir je, warum wir auf der Welt sind? Sich mit der Affäre auseinander zu setzen, wie ich es getan habe, war wahrscheinlich nur eine Möglichkeit, mir diese eigentliche Frage nicht zu stellen, diese Frage, die wir alle nicht über die Lippen bringen, auch in Gedanken kaum einmal zulassen, geschweige denn in unserer Seele, die, das ist wahr, weder weiß noch schwarz ist, sondern grau, «hübsch grau», wie Joséphine einmal zu mir gesagt hat.
    Was mich betrifft, ich bin hier. Ich habe nicht gelebt, nur überlebt. Mich schaudert. Ich öffne eine Flasche Wein und trinke, käue Brocken verlorener Zeit wieder. Ich glaube, nun habe ich alles erzählt. Alles darüber, was ich zu sein glaubte. Ich habe alles erzählt oder zumindest fast alles. Eine einzige Sache muss ich noch berichten, die schwierigste vielleicht, die einzige, die ich Clemence noch nicht einmal im Flüsterton erzählt habe. Deshalb muss ich erst noch etwas trinken, damit ich den Mut fasse, es auszusprechen, es dir, Clémence, zu sagen, denn nur für dich spreche und schreibe ich ja: Weißt du, dem Kleinen, unserem Sohn, habe ich keinen Namen geben können. Ich konnte ihn nicht einmal wirklich ansehen. Ich habe ihn auch nicht geküsst, wie ein Vater es tun sollte.
    Eine mit Häubchen bewehrte Schwester, verschrumpelt wie eine im Ofen vergessene Herbstfrucht, brachte ihn mir eine Woche nach deinem Tod. Sie sagte: «Das ist Ihr Kind. Es gehört Ihnen. Sie müssen es großziehen.» Dann hat sie mir, bevor sie sich wieder umdrehte, das weiße Bündel in den Arm gelegt. Das Kind schlief. Es war ganz warm und roch nach Milch. Bestimmt war es sehr süß. Sein Gesicht lugte aus den Tüchern, die es einhüllten. Seine Lider waren geschlossen, seine Wangen rund, so rund, dass die Lippen darin versanken. Ich habe in seinen Zügen dein Gesicht gesucht, irgendeine Erinnerung an dich, über den Tod hinaus. Aber es sah niemandem ähnlich, schon gar nicht dir. Es sah aus wie alle Säuglinge, die, nachdem sie eine lange, behagliche Nacht an einem Ort verbracht haben, den wir alle schnell vergessen, frisch auf die Welt gekommen sind. Ja, es war einer von ihnen. Ein unschuldiges Kind, wie man so sagt. Die Zukunft der Welt. Ein Menschenjunges. Die Erhaltung der Art.
    Aber für mich war es nichts von alldem, es war einfach nur dein Mörder, ein kleiner Mörder ohne Bewusstsein und Gewissen, mit dem ich würde leben müssen, während du nicht mehr da warst. Der dich getötet hatte, um zu mir zu kommen. Der seine Ellbogen und noch mehr eingesetzt hatte, um allein mit mir zu sein, damit ich nie mehr dein Gesicht sehen oder deine Haut küssen konnte, während er mit jedem Tag wachsen, Zähne bekommen und weiterhin alles verschlingen würde. Der Hände hatte, um Dinge zu greifen, und Augen, sie zu sehen, und der später Worte lernen sollte, mit denen er jedem, der es hören wollte, die infame Lüge auftischen konnte, er habe dich nie gekannt, weil du bei seiner Geburt gestorben seist, während die Wahrheit ist, dass er dich getötet hat, um geboren zu werden. Ich habe nicht lange nachgedacht. Es geschah ganz von allein. Ich nahm ein dickes Kissen und ließ sein Gesicht darunter verschwinden. Ich wartete lange. Das Kind bewegte sich nicht. Um mit den Worten derer zu sprechen, die hienieden über uns urteilen: Es geschah noch nicht einmal mit Vorsatz. Es
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