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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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aus Kamelleder und Ebenholz, das die ersten Male, als er es auseinander klappte, großen Eindruck auf uns gemacht hat – nach seiner Rückkehr aus den Kolonien. Drei Jahre hatte er damit zugebracht, irgendwo in Äthiopien oder sonst wo Hühnerdiebe und Getreideräuber zu jagen. Unausweichlich faltete und entfaltete er den Hocker an allen Tatorten, meditierte darauf wie ein Maler vor seinem Modell oder schwenkte ihn zum Spaß in der Luft wie einen Gehstock mit Knauf, in der Art eines Generals, den es nach der Schlacht gelüstet.
    Der Richter hatte Brechut zugehört und dabei seine Eier verspeist, denn sie waren, eingeschlagen in ein großes, dampfendes, weißes Geschirrtuch, inzwischen eingetroffen, und der diensteifrige Gendarm, der losgeflitzt war, hatte sie ihm, den kleinen Finger an der Hosennaht, überreicht. Der Schnurrbart des Richters war jetzt gelb und grau. Die Schalen lagen zu seinen Füßen. Er zertrat sie mit dem Absatz, wischte sich die Lippen mit einem großen Batisttaschentuch ab. Fast meinte man, die glasfeinen Knochen von Vögeln zerbrechen zu hören. Die Überreste der Schalen klebten an seinen Stiefeln wie winzige Sporen, während daneben, nur einige Schritte entfernt, Belle de Jour noch immer unter ihrem Leichentuch aus nasser Wolle lag. Dem Richter hatte das nicht den Appetit verdorben. Ich bin sogar sicher, dass ihm die Eier gerade deshalb noch besser gemundet haben.
    Brechut war fertig mit seiner Geschichte. Der Richter hatte sie, zusammen mit seinen «kleinen Welten», gekaut wie ein Kenner. «Gut, gut, gut», sagte er und stand, sich die Hemdbrust richtend, auf. Dann betrachtete er die Umgebung, als wollte er sie aus der Tiefe seiner Augen heraus ergründen. Immer noch steif, mit geradem Hut. Der Morgen ließ sein Licht, seine Stunden verrinnen. Alle Männer waren aufgestellt wie Bleifiguren in einem Miniaturtheater. Berfuche hatte eine rote Nase und Augen, in denen die Tränen standen. Grosspeil nahm langsam die Farbe von Wasser an. Crouteux hielt sein Notizbuch in der Hand, in das er bereits etwas notiert hatte, und kratzte gelegentlich seine kranke Wange, die sich im Frost mit weißen Linien überzog. Der Gendarm mit den Eiern sah aus wie aus Wachs modelliert. Der Bürgermeister war in sein Bürgermeisteramt zurückgekehrt, sehr zufrieden, wieder ins Warme zu können. Er hatte seine kleine Pflicht getan, der Rest ging ihn nichts mehr an.
    Der Richter schnappte, die Hände auf dem Rücken, mit vollen Lungen nach Luft und wippte auf der Stelle. Man wartete auf Victor Desharet, den Arzt aus V. Aber der Richter hatte es nicht mehr eilig. Er genoss Augenblick und Ort. Er versuchte, sich ihn tief ins Gedächtnis einzuprägen, wo es bereits viele Verbrechensgemälde und Mordlandschaften gab. Das war sein persönliches Museum, und ich bin sicher, dass ihm, wenn er hindurchging, wohlige Schauer über den Rücken liefen, die denen der Mörder in nichts nachstanden. Die Grenze zwischen Wild und Jäger ist schmal. Der Arzt trifft ein: So ein feines Paar, der Richter und er! Sie kennen sich vom Gymnasium her. Sie duzen sich, aber in ihrem Mund wird das Du so merkwürdig geformt, dass man es für ein Sie halten könnte. Sie essen oft zusammen, im Rébillon und in anderen Wirtshäusern; es dauert stundenlang, und alles Mögliche kommt ihnen auf den Tisch, vor allem Schwein und Innereien: Maul, Pansen in Sahnesoße, panierte Schweinsfüße, Kutteln, Hirn, frittierte Nieren. Je länger sie sich kannten und die gleichen Nahrungsmittel in sich hineinschaufelten, desto ähnlicher sahen sie sich: die gleiche Gesichtshaut, die gleichen Schwarten am Hals, der gleiche Wanst, die gleichen Augen, die über die Welt nur zu gleiten schienen und dem Morast ebenso auswichen wie dem Mitgefühl.
    Desharet betrachtet den Leichnam wie ein Lehrbeispiel. Man sieht, dass er fürchtet, sich die Handschuhe nass zu machen. Dabei kannte auch er die Kleine gut, aber unter seinen Fingern ist sie kein Kind mehr, sie ist bloß noch eine Leiche. Er berührt die Lippen, klappt das Augenlid hoch, hebt den Hals von Belle de Jour an, und nun kann jeder der Anwesenden die violetten Striemen sehen, die wie ein Halsband um ihren Hals verlaufen. «Stranguliert!», verkündet er. Um das festzustellen, muss man keine Universität absolviert haben, aber dennoch hatte das Wort an diesem eisigen Morgen, dicht neben der kleinen Leiche, die Wirkung einer Ohrfeige. «Gut, gut, gut», antwortet der Richter, sehr zufrieden, dass er einen richtigen
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