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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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Nebel, der sich über alles legt.
    Die Stille hält an. Der Direktor bereut bereits seine Anfrage, als Destinat sich plötzlich umdreht und sagt, er sei einverstanden. Einfach so. Mit tonloser Stimme. Der andere kann es nicht fassen. Er verneigt sich, stammelt, stottert, dankt mit Gefuchtel und Worten, geht rückwärts und geht endlich ganz, bevor der Gastgeber seine Meinung ändern kann.
    Warum war der Staatsanwalt einverstanden? Vielleicht nur, damit der Direktor an jenem Tag schneller wieder fortging und ihn in seiner Stille allein ließ; vielleicht hatte es ihm aber auch gefallen, dass man ihn, wenigstens einmal in seinem Leben, um etwas anderes bat als darum, den Tod zu geben oder zu verweigern. IV

    Dies geschah in den Jahren 97 und 98. Es ist lange her. Die Fabrik hat die Instandsetzungsarbeiten an dem kleinen Haus im Park bezahlt. Die Feuchtigkeit hatte es zerfressen wie einen alten Schiffsladeraum. Bislang hatte man Sachen dort untergestellt, die nicht mehr gebraucht wurden, alles und nichts, zerlegte Schränke, Rattenfallen, verrostete Sicheln, dünn wie der zunehmende Mond, Steine und Schieferplatten, eine Kutsche in der Art eines Tillbury, ausrangiertes Spielzeug, ein Gewirr von Schnüren, Gartenwerkzeuge, zerfetzte Kleidung und eine Menge hingemetzelter Hirsche und Wildschweinköpfe, alle hübsch tot und ausgestopft. Der Alte war ein begeisterter Jäger gewesen, der Sohn jedoch, der Köpfe abschneiden ließ, verabscheute es, welche anzusehen, und hatte sie dort stapeln lassen. Über allem hatten Spinnen ihre Netze gewoben, was dem Ganzen eine antike Patina verlieh, nach Art von Sarkophagen, von ägyptischen Mysterien. Um nach den groben Arbeiten alles schön herzurichten, war extra ein Innenausstatter aus Brüssel angereist.
    Der erste Mieter traf ein, sobald die Arbeiten beendet waren. Sechs Monate später wurde er durch einen zweiten abgelöst, der nach einiger Zeit ebenfalls fortging, dann folgte ein dritter, ein vierter und immer so weiter. Man zählte sie nicht mehr. Es kamen viele, die kaum ein Jahr blieben und sich durchweg ähnelten. Die Leute gaben ihnen allen den gleichen Namen. Sie sagten: «Seht mal, da geht der Mieter!» Es waren hoch gewachsene, noch ziemlich junge Männer, die keinen Lärm machten, nie ausgingen und nie eine Frau nach Hause brachten, denn sie hatten ihre Anweisungen. Manchmal wagten einige von ihnen am Sonntag ein paar Schritte im Park. Destinat sagte nichts, ließ sie gewähren. Er beobachtete sie hinter seinen Fensterscheiben und wartete darauf, dass sie zurückkehrten, um dann selbst spazieren zu gehen und sich auf eine Bank zu setzen. Die Jahre vergingen. Destinats Leben schien einem unveränderlichen Ritual zu gehorchen, zwischen dem Justizpalast von V., dem Friedhof, auf den er jede Woche zum Grab seiner Frau ging, und dem Schloss, in dem er abgesondert lebte, wie unsichtbar, zurückgezogen von der Welt, die ihn nach und nach in eine schmucklose Legende einwob.
    Er wurde älter, blieb aber derselbe. Zumindest in seiner Erscheinung. Beständig dieses ernste Gehabe, bei dem einen fröstelte, dieses Schweigen, das so undurchdringlich schien wie ein ganzes geschichtsträchtiges Jahrhundert. Wollte man seine Stimme hören, die übrigens sehr leise war, musste man zu einem Prozess gehen. Es gab oft welche. Verbrechen kommen bei uns häufiger vor als anderswo. Vielleicht weil die Winter hier länger sind und man sich langweilt, oder weil die Sommer so heiß werden, dass sie das Blut in den Adern in Wallung bringen.
    Nicht immer verstanden die Geschworenen, was der Staatsanwalt sagen wollte: Er hatte zu viel gelesen und sie nicht genug. In ihren Reihen fanden sich die unterschiedlichsten Menschen, aber selten wohlhabende Leute: Die meisten waren Habenichtse. Ungewaschene Handwerker saßen neben rotgesichtigen Bauern, hart arbeitenden kleinen Angestellten, Pfarrern mit zerschlissener Soutane, die von einer Pfarrstelle auf dem platten Land kamen und noch vor der Sonne aufgestanden waren, Fuhrmännern, erschöpften Arbeitern. Alle saßen auf derselben, auf der richtigen Bank. Viele von ihnen hätten auch auf der gegenüber sitzen können, zwischen den beiden Polizisten mit Schnurrbärten, die so steif waren wie auf den Bildern aus Epinal. Ich bin sicher, dass sie das dunkel ahnten, dass sie es wussten, ohne es vor sich selbst zugeben zu wollen, und dass es dieses dunkle Wissen war, was sie so feindselig stimmte und so hart machte gegen den Mann, ihren unglücklichen oder
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