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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen
Autoren: Phillipe Claudel
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mutigen Bruder, den sie verurteilen sollten und der sie selbst hätten sein können. Wenn Destinats Stimme im Gerichtssaal ertönte, verstummte alles Geflüster. Es schien, als rückte der ganze Saal sich zurecht, wie wenn man vor dem Spiegel an seinem Hemd zieht, damit der Kragen hochsteht. Ein ganzer Saal, der in die Runde schaut und den Atem anhält. In diese Stille hinein warf der Staatsanwalt seine ersten Worte. Und die Stille vor ihnen zerriss. Nie mehr als fünf Bogen Papier, gleich, um was es ging, gleich, wer der Angeklagte war. Der Trick des Staatsanwalts war kinderleicht. Keine Wichtigtuerei. Eine kühle, detaillierte Schilderung der Tat und des Opfers, das war alles. Aber das ist bereits viel, vor allem, wenn man kein Detail verschweigt. Meistens diente ihm der Bericht des Gerichtsmediziners als Brevier. Daran hielt er sich. Es genügte, wenn er ihn vorlas und seine Stimme bei den schärfsten Wörtern innehielt. Er ließ keine Wunde aus, keinen Einstich, nicht das kleinste Detail an einer durchschnittenen Kehle oder einem offenen Bauch. Plötzlich sahen das Publikum und die Geschworenen Bilder vor sich, die von sehr weit, aus tiefster Finsternis kamen und das Böse in sämtlichen Abarten ausmalten. Es heißt oft, man fürchte das, was man nicht kennt. Ich glaube vielmehr, dass Angst entsteht, wenn man eines Tages etwas erfährt, von dem man am Vortag noch nichts wusste. Darin lag Destinats Geheimnis: mit Unschuldsmiene den zufriedenen Leuten Dinge vor Augen zu führen, in deren Nähe sie nicht leben wollten. Der Rest war einfach. Der Triumph war ihm sicher. Er konnte den Kopf verlangen. Die Geschworenen reichten ihn ihm auf
    dem Silbertablett.
    Danach konnte er zum Essen in den Rébillon gehen. «Wieder einer gekürzt, Herr Staatsanwalt!» Bourrache geleitete ihn zu seinem Tisch und zog den Stuhl mit Manieren vor, die für einen großen Herrn bestimmt waren. Destinat entfaltete seine Serviette, brachte sein Glas mit der flachen Seite der Messerklinge zum Klingen. Richter Mierck grüßte wortlos, und Destinat erwiderte den Gruß auf gleiche Weise. Beide saßen kaum zehn Meter voneinander entfernt. Jeder an seinem Tisch. Nie wechselten sie ein Wort. Mierck fraß wie ein Scheunendrescher, die Serviette um den Hals geknotet wie ein Stallknecht, die Finger fettig von der Soße, der Blick getrübt vom Wein aus Brouilly. Der Staatsanwalt hingegen war gut erzogen. Er schnitt seinen Fisch, als würde er ihn streicheln. Noch immer regnete es. Richter Mierck verschlang seine Desserts. Belle de Jour döste neben dem großen Kamin, in den Schlaf gewiegt von Müdigkeit und vom Tanz der Flammen. Der Staatsanwalt hing den Windungen seines süßen Traums nach. Irgendwo wurden bereits eine Klinge geschärft und ein Schafott errichtet.

    Man hat mir erzählt, mit seinen Talenten und seinem Vermögen hätte Destinat es in ein hohes Amt bringen können. Stattdessen blieb er sein Leben lang bei uns. Nirgendwo also, in einem Landstrich, wo jahrelang das Getöse der Welt nur wie eine entfernte Musik zu uns drang, bevor es uns eines schönen Morgens direkt auf die Köpfe fiel und uns auf schreckliche Weise schlug, vier lange Jahre.
    Clélis Porträt schmückte noch immer die Eingangshalle des Schlosses. Ihr Lächeln sah zu, wie die Welt sich veränderte und in einem Abgrund versank. Sie trug die Kleider einer unbeschwerten, unwiederbringlichen Zeit. Im Lauf der Jahre war ihre Blässe verschwunden, und nun kolorierte der Firnis ihre Wangen mit rosiger Wärme. Destinat ging zu ihren Füßen vorbei, täglich etwas verbrauchter, erloschener, mit verzögerten Gesten und verlangsamtem Schritt. Die beiden entfernten sich noch mehr voneinander. Der plötzliche Tod raubt die Schönheit, aber bewahrt sie auch in ihrem ursprünglichen Zustand. Das macht seine Größe aus. Dagegen kann man nicht kämpfen.
    Destinat liebte die Zeit so sehr, dass er ihr beim Verrinnen zusah und zuweilen nichts weiter tat, als auf einem Rohrsessel hinter dem Fenster zu sitzen oder auf der Bank, von der aus man, dank eines kleinen künstlichen Hügels, der sich im Frühjahr mit Anemonen überzog, die trägen Fluten der Guerlante und die eiligeren des kleinen Kanals übersah. In solchen Momenten hätte man ihn für eine Statue halten können.
    Seit so vielen Jahren versuche ich nun alles zu verstehen, aber ich halte mich nicht für schlauer als die anderen. Ich taste mich vor, gehe in die Irre, drehe mich im Kreis. Am Anfang, vor der Affäre, war Destinat für
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