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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition)
Autoren: Doris Niespor
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wollte um sich schlagen, doch als sie die Lider hob, tauchte das besorgte Gesicht ihres Vaters dicht vor ihr im Halbdunkel auf. Tränen schossen ihr in die Augen. Trotzig wischte sie sie beiseite und verschränkte die Arme auf der groben Wolle der Decke. „Entschuldige, ich dachte …“
    Wulf Wille legte seine raue, warme Hand über ihre zitternden Finger.
„Schon gut, es ist ja nichts geschehen. Ich muss zur Baustelle, ruh dich noch eine Weile aus, und dann kommst du nach.“
    Anna nickte benommen, doch dann zuckte sie zusammen.
„Was ist mit meiner Arbeit? Ich muss …“
Das freundliche Gesicht des Vaters verdunkelte sich, als zöge eine Gewitterfront über den Sommerhimmel. „Da gehst du heute nicht hin.“ Wulf Wille holte tief Luft, und das Knirschen seiner Zähne übertönte für einen Augenblick den Gesang der ersten Vögel vor der Kate. „Da gehst du gar nicht mehr hin.“
Er drückte Annas Hand, nickte ihr zu und trat zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um.
„Denk an die Eier, es ist Sonnabend.“
    Anna kostete es aus, noch eine Weile reglos auf dem Bett zu liegen, wie der Vater es sie geheißen hatte. Sie starrte zur niedrigen Decke hinauf. Das Stroh, mit dem die Gemeinde die Latten gedeckt hatte, war schon ganz grau. Ein riesiges Spinnennetz zog sich von der gespaltenen Latte über ihrem Bett bis zum Hauptbalken. Es war eine kleine Hütte, die dem Baumeister von den Jeveranern zur Verfügung gestellt worden war, nicht zu vergleichen mit dem schmucken Haus des Ratsherrn und seiner Frau. Anna ballte die zierlichen Fäuste. Gilberts Haus mag sauber sein, aber seine Seele ist schmutziger als die Hände eines Köhlers, sagte sie sich wütend. Was er getan hatte, war ganz sicher Sünde.
Erst das fordernde Meckern der beiden Ziegen im hinteren Teil des Raumes riss Anna aus ihren Grübeleien. Seufzend schlug sie die Wolldecke und das Leinentuch zurück und erhob sich von ihrem Strohsack. Zur Schlachtzeit um Ostern würde sie zusätzlich zu den Decken ein eigenes Schaffell bekommen, das hatte der Vater ihr versprochen. Fröstelnd nahm sie das mausgraue Überkleid von dem einzigen Lehnstuhl im Raum. Sie hasste diese Farbe. Immer wenn sie das Kleid betrachtete, musste sie an Ruß und Asche denken. Aber der Stoff war billig und unempfindlich gewesen, und so hatte sie sich gefügt.
Während sich das Kleid um Annas schmale Hüften bauschte, war es an den Schultern viel zu knapp geworden, und die Ärmel bedeckten ihre Handgelenke schon lange nicht mehr. Sie musste die Nähte herauslassen, denn sie war schon wieder gewachsen.
Selbst für diese Jahreszeit war es ungewöhnlich kalt in Friesland. Die Feuerstelle strahlte eine verlockende Wärme ab, doch Anna mied die Flammen. Das Anzünden und Unterhalten des Feuers wären ihre Aufgabe gewesen, aber Wulf Wille sah großmütig über die Angst seiner Tochter hinweg. Obgleich ihr Vater früh auf die Baustelle musste, vergaß er nie, für sie ein Feuer zu entfachen und den Kessel über den Herd zu hängen. So konnte Anna das geputzte Grün, das Gemüse und manchmal ein wenig Fleisch mit ausgestreckten Armen in den Kessel werfen und das kleine Feuer danach einfach in der steinernen Kochstelle ausbrennen lassen. Bis zur Mahlzeit war der Eintopf fast immer gar.
    Anna schlüpfte in die dünnen Lederschuhe, bevor sie den dreibeinigen Hocker zur Hand nahm, der auch als Melkschemel diente. Das Gemüse konnte warten, zuerst mussten die Tiere versorgt werden.
Gemolken und zufrieden die getrockneten Halme und Kräuter aus der Raufe zupfend, gaben die Ziegen endlich Ruhe. Anna füllte zwei geschnitzte Näpfe aus dem Melkeimer und trug sie vorsichtig zu dem Wandbrett. Mit einem hölzernen Löffel schöpfte sie ein wenig Dickmilch aus einer Schale in die noch warme Ziegenmilch. Der Rest war, zusammen mit einem Kanten Brot, ihr Frühstück, das sie im Stehen einnahm. Heute war Samstag, und sie war spät dran. Bestimmt wunderte sich Rahardta schon, warum sie die Eier nicht holte. Und wenn Anna sich nicht beeilte, hatte die alte Frau sicher keinen der köstlichen Pfannkuchen mehr übrig, auf die sie sich die ganze Woche über gefreut hatte. Sie würde das Gemüse eben hinterher putzen.
Die Tür aus roh behauenen Brettern knarrte beim Öffnen in den ledernen Angeln. Es war ein kalter, klarer Morgen. Anna schob die Tür wieder zu und legte den ledernen Riemen um den Dorn am Pfosten. Der sonst um diese Zeit auf Annas Weg zum Eierholen übliche Betrieb hatte merklich
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