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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition)
Autoren: Doris Niespor
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die anderen schnell daran gewöhnt, dass er auf dieser Baustelle nicht übers Ohr gehauen wurde. Und auch daran, dass Wille außer den Mönchen des Klosters der Einzige war, der in dieser Gegend lesen und schreiben konnte, hatten sich die Leute gewöhnt.
    Wieder hatte das Kratzen der Feder ausgesetzt , und ein weiterer Arbeiter trat vor. Er nahm das abgezählte Geld und schimpfte los. „Das ist zu wenig!“
    Die Arbeiter hinter ihm verrenkten sich die Hälse. Anna musste sich nicht strecken, sie konnte von ihrem Holzklotz auf der Wiese neben dem Pult aus gut sehen, wer die Unruhe verursachte; es war der Mann mit dem fehlenden Finger.
    Der Baumeister blieb gelassen wie stets. „Was willst du damit sagen, Pawe? Glaubst du, ich betrüge dich um den Lohn für deine gute Arbeit?“
    Die Umstehenden lachten, offenbar war Pawe nicht sonderlich beliebt bei den Leuten.
„Es ist zu wenig. Wir schuften hier, und es ist schon zu kalt, um vernünftig zu arbeiten. Und zu essen gibt es auch nichts. Auf der letzten Baustelle wurden wir immer beköstigt.“
Pawe schnäuzte sich in die Hand mit dem fehlenden Finger und wischte sie an seinem Ärmel ab. Hier und da war nun doch zustimmendes Gemurmel zu hören.
Die Stimme des Baumeisters wurde scharf, und Anna zog unwillkürlich den Kopf ein.
„Das war so ausgemacht. Lohn ohne Kost. Dafür gibt es mehr Lohn. Wenn dir das nicht passt, such dir eine andere Arbeitsstelle.“ Der Baumeister blickte sich um. „Gott ist mein Zeuge: Ich betrüge nicht! Wenn ihr mir nicht glaubt, ist es Zeit, die Baustelle zu verlassen. Das gilt für jeden hier: Wer gehen will, soll gehen.“
Pawe spuckte auf den Boden und stapfte davon. Die anderen senkten den Blick. Um diese Zeit fand man keine neue Arbeit, und die Bezahlung war auf anderen Baustellen auch nicht besser. Der nächste Arbeiter trat vor und nahm seinen Lohn ohne Murren entgegen.
Endlich hatten alle ihr Entgeld erhalten. Anna wartete, bis ihr Vater seine Utensilien zusammengesucht hatte.
    „So, nimm die Feder und das Pergament, es ist Zeit.“ Wulf reichte seiner Tochter das zusammengerollte Blatt mit der Abrechnung des Tages und den Gänsekiel.
„Wulf!“ Arnulf eilte auf den Baumeister zu und gab ihm ein Zeichen, er möge warten. Keuchend blieb er vor Vater und Tochter stehen, und sein Atem bildete kleine Wolken in der kalten Luft.
„Eine Nachricht für dich! Einer der Mönche hat sie mir vor dem Wirtshaus gegeben.“
„Wer hat den Auftrag erteilt, sie zu schreiben?“
Arnulf hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich muss los, mein Weib wartet.“
„Geh nur, es ist gut“, antwortete der Baumeister. Arnulf machte sich auf den Weg zu seiner schwangeren Frau, der die Hebamme schon vor zwei Monden zum Schutz des Kindes verordnet hatte, sich nur im Notfall von der Bettstatt zu erheben. Wulf Wille entrollte das feine Klosterpergament aus Kalbsleder.
Anna linste neugierig auf das beschriebene Blatt, obwohl sie des Lesens nicht kundig war. Ihr Vater hatte versprochen, es ihr beizubringen, bisher aber noch keine Zeit dazu gefunden. So betrachtete sie stattdessen sein Gesicht, um herauszubekommen, was die Nachricht bedeutete. Wer mochte jetzt, kurz vor dem Winter, etwas von ihm wollen?
Wulf Willes Gesicht wurde kalkweiß. Er rollte den Bogen zusammen. Dann entrollte er ihn erneut und las noch einmal. Schließlich knüllte er das teure Pergament zusammen und schob es in den Ärmel. Wortlos stürmte er auf die Hütte zu. Ohne zu fragen, eilte Anna hinterher.
 
Feuer
    Die Glut war erloschen. Hungrig und fröstelnd kauerte Anna neben der kalten Kochstelle und wartete. Ihr Vater hockte am Tisch; er hatte kein einziges Talglicht entzündet, obwohl es inzwischen stockdunkel war.
„Vater …“
Er antwortete nicht - hatte er denn nichts gehört?
„Vater, zündest du das Feuer an? Die Glut ist erloschen.“
„Du wirst es tun“, erwiderte er nach einer langen Weile.
    Vor Schreck sprang Anna beinahe das Herz aus der Brust.
„Ich … du weißt doch, ich kann das nicht“, flüsterte sie.
    „Stell dich nicht so an! Du zündest jetzt das Feuer an. Du hast es ausgehen lassen. Wenn ich aus dem Wirtshaus zurückkomme, brennt das Feuer, und die Eier sind fertig.“
Anna schwieg und starrte die riesige Gestalt im Schatten nur aus großen Augen an.
    Wulf hämmerte mit der Faust auf den Tisch. Die Ziegen meckerten erschrocken, und eine Mäuseschar huschte raschelnd durch die bodenlose Finsternis.
„Hast du mich verstanden?“
    „Ja,
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