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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition)
Autoren: Doris Niespor
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„Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Bis Lichtmess kannst du auf der Baustelle helfen und bekommst einen Pfennig Lohn am Tag. Danach kommst du vielleicht bei den Weißnäherinnen unter.“
Anna schluckte vor Enttäuschung. Sicher, eine Arbeit auf der Baustelle war naheliegend. Als Baumeister hatte Wille das Recht, auch ungelernte Kräfte einzustellen, selbst kurz vor dem Winter. Und wenn sie einen Teil des Lohnes behalten durfte, konnte sie vielleicht Stoff kaufen, um ein Kleid anzufertigen. Aber als Weißnäherin arbeiten? Sie wollte Kleider nähen, auch bunte Gewänder für reiche Bauern oder das Kloster. Sie hatte das ewige Gebendenähen und Betttüchersäumen bei Orttraut nur so lange durchgehalten, weil sie gehofft hatte, im zweiten Lehrjahr auch andere Aufgaben übernehmen zu dürfen. Ganz sicher wollte sie nicht ihr Leben lang Wäsche säumen und Muster umsticken, aber noch weniger wollte sie Gilbert jemals wieder begegnen. Jetzt, im Winter, fand sie keine neue Lehrstelle, da konnte sie sich genauso gut zum Schein fügen. Und bis Lichtmess fände Wulf gewiss eine andere Schneiderin für sie. Anna seufzte.
    „Ich weiß, du träumst von bunten Stoffen und Seidenbändern “, sagte Wulf. „Aber nicht jeder kann Gewänder für den Kaiser anfertigen, und als Weißnäherin hast du ein Auskommen, bis du heiratest.“
Anna senkte den Kopf. Was wusste der Vater schon, wie viele Gewänder die hohen Herrschaften so brauchten? Da gäbe es sicher noch einen Platz für ein geschicktes Mädchen. Aber wenn sie ihm widersprach, würde er nur wütend werden. „Ja, Vater“, murmelte sie daher artig.
„Gut, also abgemacht. Für heute ist es zu spät, um für einen Tageslohn zu arbeiten, setz dich an den Rand und schau zu, aber ab Montag hilfst du Arnulf als Zuträgerin für die Dachlatten.“
Anna suchte sich einen Platz, von dem aus sie das Gewimmel gut im Blick hatte, und versank in Gedanken. Sie fand die Betriebsamkeit auf dem Kirchplatz nicht beunruhigend; seit sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Vater sie zu seinen Arbeitsstellen mitgenommen. Der klare blaue Himmel bildete einen hübschen Gegensatz zum hellen Holz der Kirche. Von hier aus hatte sie auch die Brunnenbauer im Auge. Einer schnitt Heidesoden zu, die für den Schacht gebraucht wurden. Die Grube war so breit, wie Anna lang war, aber der Brunnen war mit einem Geviert aus Balken gut gestützt. Die Zisterne hatte dem Baumeister Sorgen bereitet. Es war nicht so leicht gewesen, gute Balken zu finden; alles, was an abgelagertem Holz zu bekommen war, wurde in der Kirche verwendet. Schließlich hatte der Baumeister eine alte
Schleppegge aufgetrieben, deren Teile für die Kirche schon zu abgenutzt, aber für den Brunnen noch gut zu gebrauchen waren. Bis der Brunnen fertig war, mussten die Männer das Wasser zum Lehmanmischen nach wie vor in Ledereimern vom Bewässerungsgraben beim nächsten Hof herbeischleppen.
    Anna stutzte. Die Eimer! Sonst standen immer Eimer herum, doch heute entdeckte sie keinen einzigen. Und sie sah auch niemanden Lehm mischen. Hatten die Männer die Eimer vielleicht weggebracht?
Ein dunkler Schatten fiel über sie. Ein Arbeiter, die Arme voller Jutesäcke, starrte auf sie herab. Ihm fehlte ein kleiner Finger. Anna schluckte und starrte auf den noch frischen Stumpf.
„Was sitzt du hier herum? Hast du nichts zu tun?“
    Anna öffnete den Mund, doch sie kam zu keiner Antwort. Der Mann leckte sich über die bläulich verfärbten Lippen und schaute sich kurz um.
„Bist du nicht die Kleine vom Baumeister?“, fragte er.
Anna nickte stumm und versuchte, nicht auf die verstümmelte Hand zu achten.
Der Mann hielt ihr mit der gesunden Rechten einen der Jutesäcke hin. „Mach dich nützlich! Du kannst die Tücher mit dem Leinöl einsammeln und zum Lüften ausbreiten. Und dass du mir keines vergisst, wir wollen doch nicht, dass es hier zu brennen anfängt.“
    Wortlos machte der Mann kehrt und schritt auf den Holzbau zu. Anna zuckte die Achseln. Ihr war kalt, es konnte also nicht schaden, sich ein bisschen zu bewegen.
    Sorgfältig zählte Wulf Wille die Münzen ab. Er tauchte den Gänsekiel in das mit Rußtinte gefüllte Hörnchen, das am Zahltag immer verheißungsvoll in einem Loch in seinem Stehpult steckte. Das Kratzen der Feder war auf dem rauen Ziegenpergament gut zu hören, und sobald es verstummte, trat der nächste Arbeiter vor, um seinen Lohn in Empfang zu nehmen. Der Geselle zählte nicht nach; er hatte sich wie
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