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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition)
Autoren: Doris Niespor
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nachgelassen, nur gegenüber lasen Jan und Welge, die Söhne des Schusters, noch die Reste vom kürzlich geschlagenen Holz auf.
Es gab zwei Wege zu Rahardtas Hütte. Einer führte über den Kirchplatz bis fast vor das Haus des Ratsherrn und bog dann nach links ab. Anna lief lieber hinter dem Haus entlang; ihr schauderte bei dem Gedanken, Gilbert zu begegnen. Außerdem war der Weg durch die Obstgärten kürzer, und hier standen herrenlose Bäume mit roten Eiseräpfeln, von denen sie einige pflücken wollte.
    Von den unteren Ästen war schon alles abgepflückt. Anna zögerte nicht lange, zog flugs den Rock hoch, schlang einen lockeren Knoten in das Wolltuch und stieg auf den Baum. Die wenigen Äpfel, die sie ohne Korb tragen konnte, waren schnell geerntet. Als sie wieder auf dem Boden stand, den Knoten gelöst hatte und das Kleid über die Beine zurückgleiten ließ, drängten sich die hässlichen Bilder von Gilberts Überfall in ihren Kopf. Sie schüttelte sich. Gut, dass ihr Vater sie immer beschützte!
Mit ihrer Apfelbeute eilte sie über den leicht gefrorenen Boden. Bald tauchte Rahardtas schiefe Hütte auf. Wie in Annas Zuhause gab es ein geteiltes, oben aufgesperrtes Türchen, durch das die Ziegen neugierig ihre Köpfe schoben. Auch die kleine Hühnerklappe war schon auf.
    N ur wenig Rauch stieg aus dem Schornstein auf, die meisten der blaugrauen Schwaden quollen am oberen Rand von Tür und Fenster aus dem Haus, die trotz der Kälte offen standen. Ein Hahn scharrte auf dem Dach in der modrigen Strohauflage. Annas Vater hatte schon einiges an Rahardtas Haus instand gesetzt, und Anna ging ihr mit den Tieren zur Hand. Im Gegenzug sorgte die Alte für Wulf Willes Bedarf an frischen Eiern, Ziegenkäse und Butter. Das Dach war als Nächstes fällig; doch ob es vor dem Winter noch fertig werden würde, war mehr als fraglich. Die meisten Stunden mit Tageslicht verbrachte Wulf auf der Baustelle, und das Arbeiten am Sonntag war verboten. Anna wusste, wie sehr Rahardta unter Kälte und Feuchtigkeit litt, die ihr an solchen Tagen in die Knochen krochen. Gebückt und schwer auf ihren Stock gestützt, trat die Alte aus der Hütte.
„Da bist du ja endlich, Kind!“, blaffte sie. „Trödelst hier was herum. Musst doch längst bei Orttraut auf der warmen Bank hocken und die feinen Nadeln schwingen.“
Ungeachtet des rauen Tons lächelte Anna, betrat die zugige Behausung und legte die roten Äpfel auf den Tisch. Als ihr der Duft von der Feuerstelle herüber in die Nase stieg, erschauerte sie wohlig - es gab noch Pfannkuchen.
„Verwöhnte Rotzgöre, erst wird gearbeitet. Die Eier holen sich nicht von selbst aus dem Stall, oder soll ich mit meinem krummen Buckel die Hühnerleiter hinaufklettern?“
Trotz der barschen Worte machte Rahardta sich schon an dem flachen Kessel zu schaffen, der über der Feuerstelle hing. Als Anna sah, dass die Alte zittrig den Honigkrug vom Sims holte, stürmte sie rasch zum Hühnerstall davon.
     
    Auf der Baustelle herrschte geschäftiges Treiben. Überall klopfte, hämmerte und polterte es. Fröhliches Pfeifen und Rufen klangen durch die Luft; die Stimmung war gut. Noch vor dem Mittagsläuten würde der Wochenlohn ausgezahlt werden, wie jeden Samstag.
Anna huschte an den Zimmerleuten vorbei auf das Portal zu. Noch waren die Türen nicht eingehängt, aber an den Rahmen war zu erkennen, wie großartig der Einlass für die Gläubigen später sein würde. Anna klopfte das Herz vor Stolz auf ihren Vater. Was für eine Kirche! Am rechten Pfeiler befand sich das Stehpult, an dem sich Wulf Wille häufig aufhielt. Von hier aus hatte der Baumeister die Männer und den Fortgang der Arbeiten gut im Blick. Auch der Lohn wurde an dieser Stelle ausgezahlt. Doch heute sah Anna ihren Vater nicht am Pult stehen, sondern entdeckte ihn auf einem der Gerüste. Sein Freund Arnulf hielt den Balken, er selbst trieb, einen mächtigen Hammer in der Linken, mit kräftigen Schlägen einen Zapfen in das sauber vorbereitete Holz. Als er seine Tochter sah, hangelte er sich geschickt zu ihr herunter.
„Du bist spät.“
Er zog ein Tuch aus dem Kittel und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Er musterte Anna, die Augen dunkel vor Sorge, und seufzte.
    „Bist du … geht es dir gut?“
Anna wollte ihren Vater anlächeln, ihn beruhigen, doch zu ihrem Entsetzen füllten sich ihre Augen mit Tränen.
    „Ich … ja, ich denke schon. Es ist nur - wo finde ich in nächster Zeit Arbeit?“
Wulfs Gesicht hellte sich auf.
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