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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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sie seufzte: »Schade, dass ich nicht mitkommen kann in die Dolomiten! Vielleicht hätten wir beide ja tatsächlich dort oben im Gebirge den verzauberten Garten gefunden.« Ich blickte in das rotgepunktete Gesicht meiner besten Freundin, das aussah wie ein farbenverkehrter Fliegenpilz, und musste lachen: »Du würdest die Zwerge zu Tode erschrecken, so wie du aussiehst!«
    Caro schnaubte. »Diese blöden Windpocken! Jetzt bin ich in Quarantäne und sterbe vor Langeweile! Wieso habe ich so eine Kinderkrankheit überhaupt noch bekommen? Ich bin erwachsen, verflixt noch mal!«
    »Ja, mit einundzwanzig und im dritten Semester Pharmazie ist man alt und weise«, spottete ich gutmütig.
    »Immerhin drei Monate mehr als du«, schoss Caro zurück, und ihr Grinsen ließ die roten Flecken auf ihren Wangen tanzen. Ich erwiderte das Grinsen und wusste schon jetzt, wie sehr ich sie die Woche in den Bergen vermissen würde. Ihre witzigen Sprüche und die Tatsache, dass wir uns fast wortlos verstanden, hatte uns schon vor elf Jahren zu besten Freundinnen werden lassen. Kennengelernt hatten wir uns im Internat, wo man uns zusammen in ein Zwanzig-Quadratmeter-Zimmer gesteckt hatte. Zum Glück hatte ich mich von der ersten Minute an mit meiner Zimmergenossin einfach großartig verstanden. Wenn um zehn Uhr abends das Licht ausging, hatten wir oft noch mindestens eine Stunde im Dunkeln miteinander gequatscht. Mit elf Jahren kannten wir nur ein Thema: wie es wäre, ein eigenes Pferd zu besitzen und zusammen Abenteuer wie Winnetou und Old Shatterhand zu erleben. Mit dreizehn war das Pferd in Vergessenheit geraten, denn Caro war zum ersten Mal verliebt. Mich erwischte es ein paar Monate später, und wir diskutierten uns die Köpfe heiß, wie toll die beiden Jungs waren, die unser Herz erobert hatten. Bis Caros Schwarm mit ihr Schluss machte und meine Teenagerliebe kurz darauf am Umzug des betreffenden Jungen in eine andere Stadt zerbrach. Wir vergossen gemeinsam ein paar Tränen, und nach drei Tagen war der Kummer vorbei. Nur in einem Punkt waren wir so verschieden wie Tag und Nacht: Caro verstand nicht, was ich an David Bowie toll fand, und ich konnte dafür Falco, auf dessen Hit »Der Kommissar« sie total abfuhr, nichts abgewinnen. Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch. »Schneeweißchen und Rosenrot« war unser Spitzname, getreu unseren Haarfarben. Mit ihrem hellblonden Schopf, der vorne kurzgeschnitten, dafür hinten etwas länger war und wie Stacheln eines Igels vom Kopf abstand, wenn sie morgens aus dem Bett kroch, sah Caro wie die blonde Version von Nena aus. Und daneben ich, Emilia, genannt Emma, mit meinen langen, kupferroten Locken, die sich jedem Versuch, sie glatt zu föhnen, widersetzten. Ich tröstete mich damit, dass ich eben nicht der Typ für eine ordentliche Frisur war. Obwohl wir äußerlich völlig verschieden waren, hätte ich mir keine bessere Freundin wünschen können. So unzertrennlich waren wir, dass vor sechs Jahren, als Caro nach einem schlimmen Sturz vom Fahrrad drei Monate im Krankenhaus liegen und das Schuljahr wiederholen musste, vor lauter Kummer auch
meine
Noten schlecht wurden. Ich blieb ebenfalls sitzen. Die Lehrer schüttelten zwar den Kopf, aber mir war das verlorene Schuljahr egal, Hauptsache, Caro und ich waren wieder zusammen. Daher hielten wir auch gemeinsam unsere Abi-Zeugnisse in der Hand und fingen gleichzeitig mit dem Studium an.
    Auch in diesem Punkt waren wir uns völlig einig: Wir würden auch weiterhin zusammenwohnen. Daher hockte ich jetzt in Caros Zimmer im obersten Stock des Studentenwohnheims, das genau gegenüber meiner kleinen Mansarde lag. Da wir beide zurzeit keinen Freund hatten, hingen wir praktisch ständig zusammen, außer eine von uns hatte Vorlesung.
    Eigentlich wäre ich mit Caro nach dem Abi viel lieber in eine Zweier- WG gezogen, aber für die Miete hätte das Geld nicht gereicht. Trotzdem sprachen wir immer davon, bald aus dem Wohnheim aus- und in eine Altbauwohnung einzuziehen. Sie müsste hohe Decken und einen knarzenden Parkettboden besitzen und eine Badewanne mit Löwenfüßen. Ich wollte mein Zimmer rot oder orange streichen, Caro bestand schon jetzt auf schlichtem Cremeweiß für ihren Bereich.
    Wie lange es noch dauern würde, bis wir uns eine solche Wohnung tatsächlich leisten könnten, war uns egal. »Zukunft« lautete der Name der Stadt, in der unsere Träume in Erfüllung gehen sollten. Ich stellte mir vor, wie wir abends Rotwein auf dem kleinen Balkon
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