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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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blassblauen Augen, die sich jetzt zu wütenden Schlitzen verengten. Als er merkte, dass es mir ernst war, senkte er als Erster den Blick. Dann drehte er sich um und stapfte davon, nicht ohne noch etwas Unverständliches vor sich hin zu murmeln. Frank wieselte eifrig hinter ihm her und erinnerte mich in diesem Augenblick mit seinem spitzen Kinn und den verschlagenen Augen an ein Frettchen.
    Wenig später begegnete ich dem Opfer von Udos gemeinem Spruch. Die Augen des Mädchens waren noch etwas rot, und ich nahm sie kurz zur Seite.
    »Mach dir nichts draus, Tina«, sagte ich tröstend. »Udos Intelligenzquotient liegt eben weit unter der momentanen Außentemperatur!« Damit entlockte ich ihr wenigstens ein kleines Lächeln.
     
    Frau Müller, die unsere Gruppe anführte, drehte sich zu mir um riss mich aus meinen Gedanken.
    »Emilia, kommen Sie bitte, wir haben noch einen ziemlichen Aufstieg über den Cigoladepass zum Tschagerjoch vor uns.« Die Sportlehrerin trabte um die Gruppe herum wie ein Hirtenhund um eine Herde ungezogener Schafe und trieb die Trödler und Nachzügler unerbittlich an.
    Ich blieb noch einen Moment stehen und sog die klare Luft ein, in die sich der Duft von Latschenkiefer mischte. Jetzt, da sich die munter schwatzenden Stimmen der Schüler entfernt hatten, herrschte hier oben eine fast unheimliche Stille. Kein Lüftchen regte sich, und nicht einmal ein Vogel war in der lauen Sommerluft zu hören. Die Zeit schien hier oben seit Jahrhunderten stillzustehen.
    In diesem Moment tauchte Herr Spindler an meiner Seite auf. Obwohl er auch Physik unterrichtete, lag seine Vorliebe eindeutig bei seinem zweiten Fach Geschichte. Ein Stichwort genügte, und er konnte die gesamte griechische Mythologie von A wie Athene bis Z wie Zeus herunterbeten. Ich hatte gehört, wie ihn einige Schüler deswegen statt Spindler »Spinner« nannten, aber ich mochte den knapp fünfzigjährigen Mann. Mit seiner schmächtigen Statur und der großen Hornbrille sah er so aus, wie ich mir einen vergeistigten Bücherwurm vorstellte. Eigentlich hätte er viel besser in einen hohen Turm gepasst, dessen Wände rundherum mit Bücherregalen gepflastert waren, als in eine Schule mit ihren meist lauten und oft lernunwilligen Insassen.
    Jetzt war sein Blick schwärmerisch auf das Gebirgsmassiv vor uns gerichtet. »In den Legenden wird oft beschrieben, dass Menschen, die in jungen Jahren in das Reich der Zwerge hineingeraten, als Greise wieder herauskommen. Offenbar glaubte man, dass im Inneren der Berge, dort, wo die Zwerge hausen, eine andere Zeitrechnung herrscht. Eine faszinierende Idee, nicht wahr?«, fragte er und blickte mich durch seine dicke Brille an wie ein kurzsichtiger Uhu.
    »Ähm, na ja. Kommt drauf an«, bemerkte ich vorsichtig. »Für den, der rauskommt und plötzlich uralt ist, ist das wohl weniger faszinierend.« Spindler lächelte und nickte. »Ja, aber man stelle sich vor, dass es unter der Erde einen Punkt gibt, wo sich die Relationen verschieben! Dass dort eine Sache, die wir als ›Zeit‹ definieren, eine völlig andere Dynamik entwickelt als hier an der Oberfläche!«
    Ich sah ihn erstaunt an. Bisher hatte Spindler für mich immer etwas von einer Maus gehabt: graues Haar, graue Gesichtsfarbe, Strickjacke und Hose im gleichen Anthrazit-Ton. Jetzt aber glühte sein Gesicht vor Begeisterung, seine Augen funkelten, und er unterstrich seine Worte mit lebhaften Gesten. Ich musste zugeben, dass seine Theorie zwar völlig verrückt, aber dennoch interessant war.
    »Sie meinen also, im Reich von König Laurin altern die Menschen schneller?«, fragte ich. Spindler rieb sich die Nase. »Vielleicht ist es die Tatsache, dass im Berg weder Tag noch Nacht herrscht. Nur zeitlose Finsternis«, vermutete er. Langsam begann mir die Sache Spaß zu machen.
    »Und deshalb hat Laurin auch bei seinem Fluch vergessen, die Dämmerung zu erwähnen! Vielleicht weiß er nach seinem Kampf mit Simildes Rittern, dass in unserer Welt Tag und Nacht existieren. Aber weil er nur die Dunkelheit seines Felsenreichs kennt, hat er keine Vorstellung davon, es könnte noch etwas dazwischen geben!«, spann ich den Faden weiter.
    Spindler nickte begeistert, jetzt war er in seinem Element. »Wer weiß, vielleicht haben diese Sagen ja auch eine Art Eigendynamik. Der Glaube daran verändert unsere menschliche Wahrnehmung, und plötzlich zeigt unser Bewusstsein uns für ein paar Sekunden einen Rosengarten statt eines Gebirgsmassivs?«, theoretisierte er.
    »Wir
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