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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Tatsächlich war Caro und mir damals der Abschied von unserem Internat und all den Leuten, mit denen wir lange Zeit zusammen gewesen waren, ganz schön schwergefallen. Trotzdem hatte Udo mit seiner gemeinen Bemerkung einen Giftpfeil abgeschossen, der wohlplaziert war und mich tief in meinem Inneren schmerzte, das ich normalerweise vor anderen so gut verborgen hielt wie Zwergenkönig Laurin seine Schatzkammer. Am liebsten hätte ich diesen widerlichen Typen über die Felskante geschubst, die zwei Meter neben uns steil abfiel.
    Bevor ich jedoch zu einer Erwiderung ansetzen und Udo in die Schranken verweisen konnte, meldete sich Frank zu Wort. »Habt ihr das gesehen?«, fragte er und sah dabei so ehrlich erstaunt aus, dass ich unwillkürlich den Kopf in die Richtung drehte, in die auch er blickte. Gleich darauf ärgerte ich mich über meine Dummheit. Hatte ich nicht vor drei Minuten den gleichen albernen Scherz mit den beiden Dummköpfen getrieben? Nun war ich selbst darauf hereingefallen. Doch da sah ich die nadeligen, verkrümmten Zweige der Latschenkiefern wenige Meter vor uns, die sich heftig bewegten, als würde ein Tier hindurchhuschen. Udo schien den gleichen Gedanken zu haben.
    »Wahrscheinlich nur ein Murmeltier«, maulte er desinteressiert. Aber Frank schüttelte den Kopf. Seine Augen waren aufgerissen, sein Mund mit den etwas vorstehenden Schneidezähnen stand halb offen. »Ne, da war ein Mann. Ziemlich klein, verhutzeltes Gesicht«, stammelte er.
    »Ein Zwerg«, schlussfolgerte ich trocken, und obwohl er eben noch so fies zu mir gewesen war, prustete Udo los.
    Franks runder Kopf, der irgendwie immer zu klein für seinen Körper wirkte, lief puterrot an und verlieh ihm das Aussehen eines unangezündeten Streichholzes. »Ich habe es aber gesehen«, wehrte er sich und wandte sich mit verschränkten Armen ab.
    »Natürlich, Frank! Aber das war ein Tier. Zwerge gibt es nur im Märchen, schon vergessen?«, erklärte ich ihm geduldig wie eine Mutter ihrem panischen Sprössling, der Gespenster unter dem Bett witterte. »Da war aber einer«, beharrte Frank, und ich verdrehte die Augen. »Wetten?«, provozierte er, und jetzt erwachte in Udo der Ehrgeiz.
    »Wetten, nicht?«, schoss er zurück, und ehe ich beiden noch an den Kopf werfen konnte, dass sie sich benahmen wie Ernie und Bert aus der Sesamstraße, waren sie schon aufgesprungen und liefen eilig in die Richtung, in der die Bewegung zwischen den Latschen zu sehen gewesen war.
    »Stopp, kommt zurück! Wir dürfen uns nicht zu weit von der Gruppe entfernen!«, rief ich. Doch keiner der beiden hörte auf mich. Frau Müller würde mir die Hölle heißmachen, wenn einem von beiden etwas passierte. Fluchend sprang ich auf, griff hastig nach meinem Rucksack und rannte hinter den Idioten her. Ich konnte nicht ahnen, dass ich weder die Lehrer noch die meisten aus der Gruppe für viele, viele Jahre wiedersehen würde.
     
    Vorerst war ich ganz darauf konzentriert, Udo und Frank einzuholen, die vor mir herliefen. Auf einmal blieb Udo abrupt stehen, so dass Frank gegen ihn prallte. Ich konnte gerade noch bremsen, ehe ich auch noch in Frank hineinrannte und wir drei wie menschliche Dominosteine übereinandergepurzelt wären.
    »Da«, flüsterte Udo und deutete mit dem Finger auf einen etwa hüfthohen Findling, der vor uns aufragte.
    »Ein Felsbrocken. Ja und?«, meinte ich ärgerlich, weil ich dachte, Udo wollte uns mal wieder veräppeln. »Nun seid bitte vernünftig, und kommt mit mir zurück, ja?«
    »Psst«, zischte er.
    Und da hörte ich es auch: ein Rascheln und Wispern, als würden hinter dem grau gemaserten Stein trockene Blätter aufwirbeln – oder eine Schlange wütend zischeln. Allerdings dachte ich, so etwas wie Worte zu verstehen. War da hinter dem Felsen ein Mensch – oder etwas anderes? Bei dem Gedanken spürte ich, dass eine Gänsehaut über meine nackten Arme kroch. Eine merkwürdige Scheu hielt mich davon ab, den Findling zu umrunden und nachzusehen, woher dieses Geräusch stammte. Oder von wem.
    Am Gesichtsausdruck der beiden Jungs konnte ich erkennen, dass ihnen die Sache auch nicht ganz geheuer war. Frank war sogar einen Schritt zurückgewichen und duckte sich hinter Udos breiten Rücken. Plötzlich verstummte das Wispern. Die Stille des heißen Julinachmittags schien sich auf uns herabzusenken wie eine warme, erstickende Decke, sie wurde unerträglich und dröhnte in meinen Ohren. Irgendeiner von uns musste etwas sagen, musste diesen Bann brechen,
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